Die Dunkelkammer History
Eichmann in Jerusalem: „Ich war nur ein winziges Schräubchen“
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Von Christa Zöchling. Als Adolf Eichmann 1961 in Jerusalem vor Gericht stand, ging es um die Deportationen und sechs Millionen Opfer. Eichmann gelang es in der nüchternen Prozess-Atmosphäre, das Bild eines Bürokraten zu etablieren, der nur Befehle befolgte. Heute wissen wir es besser.
Christa Zöchling
Guten Tag, hier ist Christa Zöchling. Ich begrüße Sie zur neuen Dunkelkammer aus der Reihe History. Heute geht es um den zweiten Teil der Eichmann Geschichte, die in Wien begonnen hat. Vor zwei Wochen sprach ich über eine Ausstellung in der Wiener Arbeiterkammer über die Zentralstelle zur Vertreibung der Juden, geleitet von SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, untergebracht im Palais Rothschild, an dessen Adresse heute die Arbeiterkammer steht. Adolf Eichmann, der Verantwortliche für Vertreibung und Deportation in der NS-Zeit. Am Ende waren sechs Millionen Juden und Jüdinnen tot.
Wie straft man so jemanden? Gibt es dafür überhaupt eine Art von juristischen Rahmen? Das von den alliierten Mächten ins Leben gerufene Nürnberger Tribunal gab im Jahr 1945 und 46 sein Bestes. Im Oktober 45 saßen 24 Angehörige der nationalsozialistischen Elite aus Politik, Wehrmacht und Wirtschaft auf der Anklagebank. Das waren die, derer man zu diesem Zeitpunkt habhaft werden konnte. Adolf Hitler und Joseph Goebbels hatten sich in den letzten Kriegstagen im Führerbunker selbst das Leben genommen. Reichsführer SS Heinrich Himmler hatte sich vergiftet, als er mit falschen Papieren erwischt wurde.
Von der Verhandlung im Saal 600 in Nürnberg gibt es Filmdokumente. Die Angeklagten saßen in zwei langen Bankreihen. Maskenhafte, starre, bockige Gesichter, böse auf die Welt. Wenn sie in den Saal hineingingen, grüßten sie einander mit Verbeugung. Den Ranghöchsten zuerst, das war Hermann Göring, Hitlers Stellvertreter, um den sich in den Pausen alle scharten. Die Anklage lautete auf Verbrechen gegen den Frieden und Verschwörung, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Das waren bisher unbekannte Delikte. Anders war der Barbarei und Inhumanität nicht beizukommen. Im Gerichtssaal wurden Filme gezeigt von den Vernichtungslagern Auschwitz, Bergen-Belsen, Buchenwald, Mauthausen und wie es dort aussah, als die Befreier kamen. Leichenberge, bis zum Skelett abgemagerte Gestalten auf Pritschen, Hungergesichter in grieseligem Schwarz-Weiß. Göring stand im Gericht als Erster auf und antwortete auf die Frage des Vorsitzenden mit: Nicht schuldig.
Die anderen taten es ihm gleich. Baldur von Schirach, der Jugendführer und Gauleiter in Wien gewesen war, wusste von nichts. Walter Funk, Hitlers persönlicher Pressesprecher, wusste von nichts. Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, wusste von nichts. Generaloberst Jodl wusste von nichts. Ernst Kaltenbrunner, Chef des Reichssicherheitshauptamtes, wusste von nichts. Und so ging es weiter. Alle hatten sie nur auf Befehl gehandelt und der sei eben von Hitler gekommen. Nein, sie hätten nichts gegen Juden gehabt. Sie hätten bloß gedacht, die Juden wollten selbst nach Polen umgesiedelt werden.
Es gab zehn Todesstrafen. Göring beging nach der Urteilsverkündung Suizid, andere kamen mit Haftstrafen davon und es gab drei Freisprüche. Einer fehlte in Nürnberg. Er wurde jedoch mehrmals erwähnt. Adolf Eichmann, Leiter einer Dienststelle im Reichssicherheitshauptamt, genannt Eichmann-Referat, zuständig für Juden im Allgemeinen, für Vertreibung, Umsiedlung und Deportation. Über den Schreibtisch seiner Dienststelle gingen unter anderem die Bestellungen für Zyklon B, die Transportlogistik und die ganzen statistischen Erhebungen. Wie viele Juden gibt es in den von der Wehrmacht besetzten Ländern. Wie viele Züge werden gebraucht.
Der Österreicher Wilhelm Höttl, ehemaliger SS-Offizier, der sich nach seiner Gefangennahme ganz schnell den Amerikanern angedient hatte, war in Nürnberg ein Zeuge der Anklage. Er sagte: Eichmann hätte ihm gegen Kriegsende anvertraut, in den Vernichtungslagern seien 4 Millionen Juden getötet worden und 2 Millionen auf andere Art und Weise ums Leben gekommen, größtenteils erschossen im Feldzug gegen Russland. Höttls eigene Rolle bei der Deportation einer halben Million ungarischer Juden im Jahr 1944, er war damals Höherer SS- und Polizeioffizier an der deutschen Botschaft in Budapest gewesen, wurde nie aufgeklärt, nie angeklagt. Höttl machte nach dem Krieg eine Karriere als Schuldirektor in Altaussee und bekam das Goldene Ehrenzeichen des Landes Steiermark verliehen.
Eichmann hatte sich währenddessen in den letzten Kriegstagen in seinem Amt mit falschen Papieren eingedeckt und ein Kriegsgefangenenlager der Amerikaner nach dem anderen aufgesucht. Immer dann, wenn es brenzlig wurde und er den Eindruck hatte, jetzt drohten genauere Befragungen, auch wegen seiner SS-Tätowierung oder jemand könnte ihn erkennen, war er weg. Als im Zuge des Nürnberger Tribunals sein Name öfter in den Zeitungen auftauchte, setzte er sich, natürlich mit Hilfe eines SS-Kameraden, nach Norddeutschland ab.
Eine Zeit lang arbeitete er als Holzfäller, dann pachtete er ein Stück Land und wurde Hendlzüchter. Er war in dem Dorf beliebt, spielte abends für die Nachbarn auf der Geige. Frau und Kinder von Eichmann lebten unbehelligt, wenn auch beobachtet, in Altaussee. Man hielt vorsichtig Kontakt über Eichmanns Vater in Linz, der dort einen Elektrohandel betrieb. Eichmanns Flucht nach Argentinien war gut geplant. Ein Reisepass vom Roten Kreuz, ein Kurzvisum vom argentinischen Konsulat, Fluchthelfer im Vatikan. Im Sommer 1950 bevor sein Visum ablief, bestieg Eichmann ein Schiff nach Buenos Aires.
Zwei Jahre später folgten von den Behörden unbemerkt Frau und Kinder. In Argentinien heißt Eichmann Ricardo Klement und er tritt seinen Kindern erst einmal als Onkel gegenüber. Wirtschaftlich hat er ganz guten Erfolg. Die Regierung Perón heißt Nazis willkommen und es gibt ein einschlägiges Netzwerk. Eichmann trifft sich regelmäßig mit Gesinnungsfreunden. Dazu gehört auch ein niederländischer Journalist, ein ehemaliger SS-Mann und Ghostwriter für alte Nazis. Auch mit Eichmann wird ein Buchprojekt besprochen.
Willem Sassen nimmt die Gespräche mit Eichmann auf. Am Ende sind es 73 Tonbänder. Bald tauchen Gerüchte auf, Eichmann sei in Argentinien. Er hatte zuvor falsche Spuren gelegt. Generalstaatsanwalt Fritz Bauer in Frankfurt hat einen Hinweis aus Buenos Aires bekommen. Die Tochter eines Holocaust-Überlebenden war, mit einem jungen Mann ausgegangen, der sich als schlimmer Antisemit erwies. Bei Nachfragen, woher er komme, wer sein Vater sei, erhärtet sich der Verdacht, es könnte sich um Eichmann handeln.
Bauer informiert den Mossad, den israelischen Geheimdienst, denn die deutsche Bundesregierung hat ein Auslieferungsbegehren für Eichmann bereits abgelehnt, und Bauer traut den Deutschen nicht ganz. 1959 gibt dann noch ein ehemaliger Arbeitskollege Eichmanns einen Hinweis an Bauer. Jetzt erst erfolgt der Zugriff. Im Mai 1960 wird Eichmann eines Abends auf dem Weg nach Hause von Mossad-Leuten in ein Auto gezerrt und ein paar Tage später mit einer El-Al-Maschine taumelnd und nicht ganz bei sich nach Tel Aviv entführt. Vorher hatte er ein Papier unterschrieben, dass er sich freiwillig einem Gerichtsverfahren in Israel stelle.
Die Empörung war groß. Israel entschuldigte sich für die Aktion, doch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verurteilte Israel einstimmig. In Buenos Aires brach eine antisemitische Stimmung aus. Juden wurden angegriffen, ein Junge wurde erschossen, einem Mädchen wurde ein Hakenkreuz in die Brust geschnitten. Im April 1961 ist in Israel die Anklage fertig und diesmal steht der Holocaust im Zentrum der Debatte oder der Gerichtsverhandlung.
Ein israelischer Polizist, Avner Less, ein gebürtiger Berliner, hat Eichmann 270 Stunden lang einvernommen in der Nähe von Haifa in einem Gefängnis, das nur für Eichmann adaptiert worden war. Einmal in diesen langen Stunden des Verhörs hat sich Eichmann erkundigt, wo seine Eltern herkommen. Mein Vater wurde von Berlin nach Auschwitz deportiert, sagt Less trocken. Oh, wie entsetzlich, sagt Eichmann. Less probierte verschiedene Taktiken aus. Er ließ ihn erzählen. Er legte ihm Dokumente mit seiner Unterschrift vor. Er wechselte abrupt das Thema.
Die Grundidee war, Eichmann reden zu lassen, doch er verriet sich selten. Eichmann agierte ähnlich wie die Nürnberger Hauptkriegsverbrecher. Es sei ein kleines Rädchen oder Schräubchen gewesen und habe nur Befehle ausgeführt. Eichmann konnte freilich nicht gut sagen, er hätte nichts gewusst. Allein Auschwitz hat er achtmal besucht, auch andere Stätten der Vernichtung. Und er hatte sich auch die Tötung mit Gaswagen angesehen. Aber, so Eichmann, vor den Toren der Konzentrationslager und Vernichtungslager sei seine Zuständigkeit erloschen.
Eichmann war immer auf Achse in diesen Jahren 1941 bis 1945. Ließ sich durch halb Europa Europa chauffieren, immer am neuesten Stand mit den Zahlen. Man vergisst ja leicht, aber die Wehrmacht hatte 1942 ganz Europa besetzt oder über befreundete Regierungen kontrolliert, und von überall fuhren Güterzüge in den Osten. Im Jänner 1942 hatte Eichmann die Wannseekonferenz mit Zahlenmaterial vorbereitet. Wie viele Juden und Jüdinnen es noch gab in Europa, wie viele Züge man noch brauchen würde und so weiter. Und er hatte auch das Beschlussprotokoll von der Wannseekonferenz verfasst. Wenn ihm im Gerichtssaal in Jerusalem Dokumente mit seiner Unterschrift vorgelegt wurden, redete er sich damit heraus, dass er nur den Befehl seines Vorgesetzten weitergegeben hätte oder er behauptete, es sei eine Fälschung.
Damals, also 1961, wusste man noch nicht so viel über den NS-Apparat wie heute. Und Eichmann tat einiges, um die Verwirrung zu steigern. Ich bringe ein Beispiel. Auf die Frage seines Anwalts: Herr Eichmann, Ihre Abteilung, die Abteilung 4D ist das, die spätere Abteilung 4B. Und Eichmann: Jawohl. Hier wurde das Sonderreferat mit Wirkung vom 5. Februar 1940 in das planmäßige Gefüge des Referataufbaus des Amtes 4 oder des geheimen Staatspolizeiamtes, wie es genannt wurde, als 4 B4 eingefügt. Wenn ich vorher sagte, dass wenn das Dezernat 4 B4 nur für das Amt 4 zuständig war, so finden meine Bemerkungen ihre Erhärtung auf Seite 8 in der tabellenmäßig sachlichen Verteilung des Amtes der Gruppe 2A, und zwar einmal 2A Gesetzgebung, diesem Dezernat Angehörige befinden sich hier in einer Reihe von Dokumenten verzeichnet. Ferner hat das Dezernat 2A die Feststellung der Staatsfeindlichkeit, die Einziehung staatsfeindlichen Vermögens und Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit, also Sachgebiete, die zurzeit noch bei Amt 2 behandelt wurden. Später wurden in einem anderen Geschäftsverteilungsplan mir diese Sachgebiete und so weiter und so fort geht es in diesem Ton.
Und das war mit Absicht. Eichmann versuchte Verwirrung zu schaffen. Und dieser Punkt ist wichtig, denn so lehrte sich mit der Zeit der Gerichtssaal. Prozessbeobachter blieben nach und nach weg, selbst Journalisten. Und Eichmann gelang es von sich das Bild eines Bürokraten zu etablieren, eines gehorsamen, loyalen Beamten. In seiner gläsernen, kugelsicheren Zelle erschien er nur lebendig, wenn er Ordner hin und her rückte und Papiere exakt aufeinander legte.
Auch die brillante Hannah Arendt hat mit ihrem Essay "Eichmann in Jerusalem" zu diesem Eindruck beigetragen. Sie sah einen stumpfsinnigen, langweiligen Mann, ein passives Rädchen, das mehr von Routine als von ideologischem Eifer getrieben war. Ein Mann ohne Ideologie, ohne Eigeninitiative, ehrgeizig und gedankenlos. Einer, der sich gar nicht vorstellen kann, was er angestellt hatte. Seine Verbrechen, so meinte Arendt, seien keinen bösen Trieben entsprungen, sondern schierer Gedankenlosigkeit. Und darin, genau darin bestehe die Banalität des Bösen. Eichmann war in ihren Augen kein Ungeheuer, eher ein Hanswurst. Der Vorsatz, ein gesetzestreuer Bürger zu sein, dieser Vorsatz habe ihn so weit kommen lassen, meinte sie. Es war ein Irrtum.
Für Aufruhr sorgte Arendt auch mit der Behauptung, jüdische Funktionäre hätten es Eichmann allzu leicht gemacht. Sie hätten mitgeholfen, die Züge vollzukriegen und die eigenen Leute ruhigzustellen. Arendt lag auch damit falsch. Eichmann hatte die Radikalisierung der sogenannten Judenfrage nicht nur mitgemacht, sondern beschleunigt, und er war sehr kreativ gewesen mit Lug und Trug. Eine Zeit lang lancierte er sogar, er sei in Palästina geboren worden und sympathisiere mit dem Zionismus. Und er verstand es sehr gut, die jüdischen Vertreter zu terrorisieren, die sich fortwährend in einem existenziellen Zweifel befanden. Machen wir es schlimmer, wenn wir uns wehren? Oder machen wir es besser?
Der Wiener Rabbiner Benjamin Murmelstein sagte nach dem Krieg bitter: Es hat so ausgesehen, als ob wir uns selbst deportiert hätten. Der Schriftsteller Doron Rabinovic hat mit seiner Studie "Instanzen der Ohnmacht. Das Dilemma der Judenräte" in dieser Zeit sehr genau und sehr überzeugend beschrieben. Arendt hatte freilich nur einen Bruchteil des Prozesses in Jerusalem wahrgenommen, nur wenige Stunden von Eichmanns Aussage miterlebt und ihn nie im Kreuzverhör gesehen. Allerdings hat sie sehr gründlich die Verhör- und Prozessprotokolle studiert. Und da war er, der Bürokrat Eichmann. Simon Wiesenthal hatte damals gemeint, Eichmann solle gezwungen werden, einmal in einer schwarzen SS-Uniform vor Gericht zu erscheinen, dann sehe man ihn so, wie ihn die Opfer erlebt haben.
Keine Frage, die Nüchternheit einer Gerichtsverhandlung war für Eichmann von Vorteil. Nur die damals schon zum Teil bekannten Tonbänder seiner Gespräche mit Willem Sassen, die hätten das Bild gestört. Etwa Eichmanns Plauderei aus dem Jahr 1957, wo er bedauert, dass er nicht alle zehn Millionen Juden geschafft hatte, sondern nur sechs. Aber er sei eben ein Idealist, und er hätte gern mehr zusammengebracht. An einer anderen Stelle prahlt er, für die Deportation der ungarischen Juden habe man extra ihn, den Meister, nach Budapest geschickt. Aber die Sassen-Bänder waren zur Beweiswürdigung vor Gericht in Jerusalem nicht zugelassen. Nur ganz wenige Seiten des Manuskripts, auf denen Eichmann selbst etwas angemerkt hatte, die galten als autorisiert und Sassen selbst, um das zu bestätigen, dass er diese Tonbänder aufgenommen hat. Saßen war natürlich nicht aufzutreiben.
Eichmann wurde nach acht Monaten Verhandlungen zum Tode durch Drang verurteilt. Die Todesstrafe wurde in Israel von Prominenten, wie Martin Buber und vielen Historikern scharf kritisiert. Mit dem Eichmann-Prozess bekam die Holocaust-Forschung neuen Schwung und die Frage, warum die Gesellschaft damals so machtlos gegenüber Nationalsozialismus und Faschismus gewesen war, ebenso.
Der liberale Historiker Sebastian Haffner kommentierte im Rückblick: Es gab ein sehr weit verbreitetes Gefühl der Erlösung und der Befreiung von der Demokratie damals in den 20er- und 30er-Jahren. Doch was macht eine Demokratie, wenn eine Mehrheit des Volkes sie nicht mehr will? Nun, und darüber werde ich mir im nächsten Podcast Gedanken machen und so verabschiede ich mich von Ihnen. Ihre Christa Zöchlin. Dankeschön.
Autor:in:Christa Zöchling |