Bühneneingang
Eine "Carte blanche" für weihnachtliche Buchtipps - mit Katia Schwingshandl

Fotocredit: Anna-Lisa Bier

Die klassische Rezension gehörte bislang nicht zum Repertoire des Bühneneingangs. Und das soll auch so bleiben. Deshalb hat Buchkultur-Chefredakteurin Katia Schwingshandl rechtzeitig zu Weihnachten eine bedingungslose Carte Blanche erhalten: Jenseits von Aktualitätsdruck und Zeichen- bzw. Zeitvorgaben erzählt sie über vier Bücher, die sie auf die eine oder andere Art berührt haben. Und so kann Folge 71 als freudvolles Gespräch über Literatur, Ratgeberformat für Last-Minute-Geschenke oder aber als intimer Einblick in den Literaturjournalismus gehört werden.

Fabian Burstein
Hallo und herzlich willkommen am Bühneneingang. Mein Name ist Fabian Burstein, ich bin Kulturmanager und Autor und in diesem Podcast zeige ich euch den Kulturbetrieb von innen, so wie er wirklich ist.

Mein heutiger Gast ist Katja Schwingshandl. Als Chefredakteurin des Magazins "Buchkultur" steuert sie eine der renommiertesten Literaturredaktionen des deutschsprachigen Raums. In sechs regulären Nummern, punktuellen Sonderheften und dem Newsletterformat "Bücherbrief" offenbart sich hier eine Vielzahl an Rezensionen, Interviews und Hintergrundgeschichten, die am Printmarkt wahrscheinlich einzigartig ist. Dementsprechend ist die "Buchkultur"-Chefredakteurin auch eine Idealbesetzung für eine Premiere am "Bühneneingang". Rechtzeitig zu Weihnachten empfehlen wir Bücher, und zwar jenseits von Verlags-PR, Werbeeinschaltungen und persönlichen Beziehungen - unabhängig und hintergründig, ganz so, wie es sich für eine Empfehlungskultur im Bühneneingang und Buchkulturstil gehört.

Liebe Katja, vielen Dank, dass du dich auf dieses Experiment einlässt.

Katja Schwingshandl
Ich freue mich sehr. Danke für die Einladung und für das schöne Intro.

Fabian Burstein
Kurze Frage: Wie viele Bücher liest du eigentlich so im Jahr?

Katja Schwingshandl
Hervorragende Frage. Ich track das seit dem Jahr ein bisschen. Ich glaube, ich bin jetzt bei 52 oder sogar schon ein bisschen mehr. Ich glaube, ich habe ein paar auslassen letztens. Muss aber auch sagen, das liegt daran, dass ich jetzt auch in so Literaturjurys und so drinnen gesessen bin. Also das ist manchmal halt sehr kondensiert, manchmal dann wieder ein bisschen weniger, aber ja doch. Und vor allem das Reinlesen, das zähle ich ja nicht, aber das mache ich ja immer.

Fabian Burstein
Das heißt, es gibt zwei Formen: Einmal das so richtig von vorne bis hinten Durchlesen und dann das berühmte Querlesen. Also sich einen Überblick verschaffen, wichtige Botschaften destillieren etc.

Katja Schwingshandl
Genau, da blutet mir auch immer das Herz. Es ist echt, echt schlimm. Und auch so ein bisschen nach Zufallsprinzip oft, welche Bücher ich dann wirklich fertiglese, wo ich dann doch Zeit habe oder wo es mich dann genug packt. Und das wäre auch gleich endlich schon die Überleitung für die Bücher heute. Die haben mich nämlich alle gepackt.

Fabian Burstein

Bevor wir in diese Empfehlungen reingehen, doch noch ein bisschen in den Maschinenraum des Literaturjournalismus. Was muss ein Buch können im Vorfeld oder welche Botschaften muss es mitbringen, dass du oder deine Redaktion sagen: Okay, das wollen wir besprechen, das kommt in die engere Wahl, das könnte etwas für das Heft sein.

Katja Schwingshandl

Ja, eine Frage, die sich leicht in einem Satz stellen lässt, aber die Antwort ist absolut nicht in einem Satz dir zu geben. Unsere Redaktion ist wahnsinnig divers. Also, das ist auch das große Plus, würde ich sagen bei uns. Also wir haben extrem unterschiedliche Leute mit extrem unterschiedlichen Vorlieben und die Leute schicken mir einfach oft auch Vorschläge, die graben sich selber freiwillig durch die Vorschauen. Natürlich sind bereits bekannte Namen ein absolutes Kriterium. Man möchte wissen, hat irgendwie der die bekannte Autorin da jetzt den nächsten Bestseller geschrieben oder so. Das ist ja extrem spannend für uns, weil wir einfach die Bücher schon vorab bekommen.

Also wir sind wirklich die Ersten, die das lesen dürfen. Die Ersten, die sich da ein Urteil drüber machen können. Und also was mich persönlich in meinem Geschmack immer packt, sind Bücher. Also natürlich bin ich eher angesprochen von Leuten, sagen wir mal aus meiner Generation, die irgendwie aus ihrem eigenen Lebensumfeld oder so literarisch berichten. Einfach Themen, mit denen man selber was anfangen kann. Und das ist eben so wahnsinnig individuell. Und gleichzeitig, und das ist auch oft das Schöne, ist es mir jetzt oft so gegangen, dass ich Bücher für wahnsinnig großartig eben schon vorab gehalten habe und die sind dann auch im Feuilleton quasi groß geworden. Also das ist extrem toll, wie dann oft der individuelle Geschmack irgendwie zu diesem universellen Geschmacksurteil wird.

Fabian Burstein
Kurze Qualitätsfrage: Das ist ja was Besonderes an der Buchkultur, dass sie jetzt nicht irgendeiner großen Seilschaft oder einem großen Unternehmen zugeschlagen wird im klassischen Sinn. Wie stellt es sicher, dass sie aber nicht von zum Beispiel so klassischen Literatur der Verlagsseilschaften subtil unterwandert werdet. Also sprich, dass sich so Routinen einschleichen, dass nur bestimmte Verlagshäuser besprochen werden, dass Freunde von Freunden jemanden besprechen etc. Das ist ja unglaublich schwierig, wenn man auf so eine Branche fokussiert ist.

Katja Schwingshandl

Absolut. Also ich würde mal sagen, obwohl wir so ein Mini-Team sind, es gibt dann eben noch den Geschäftsführer, den Max Freudenschuß, der auch schon mal hier zu Gast war.

Fabian Burstein
Ja, als Mitbegründer der IG Buchmenschen.

Katja Schwingshandl

Genau. Und eben, obwohl wir so klein sind und in dem Sinne quasi nur zu zweit, trennen wir das eben extrem stark. Also wer bei uns Inserate bucht oder so, ist seine Sache. Wer hingegen mir Programme vorstellt, vorstellen darf, wo ich reinschau, ist wirklich absolut meine Sache. Natürlich. Und das ist eigentlich gerade das Witzige auch, dass du das so ansprichst. Natürlich kennt man mit dem Laufe der Zeit auch immer mehr Leute. Es ist echt witzig.

Zum Beispiel würde ich schon sagen, dass ich jetzt drei der vier Autorinnen, die ich heute vorstelle. Also ich folge denen zumindest auf Instagram. Das ist ja auch noch mal so was, da kommt man kaum irgendwie dran vorbei. Die sind mir auch wahnsinnig sympathisch und oft geht das halt auch Hand in Hand. Das ist halt nun mal so. Und mit dem habe ich mich mittlerweile auch schon abgefunden. Trotzdem wage ich zu behaupten, dass wir das sehr, sehr, sehr stark trennen, weil ich, sagen wir mal so, in anderen Kulturredaktionen dann doch immer wieder stärker beobachte, was da so für Seilschaften unterwegs sind. Und ich versuche das halt schon durchaus aktiv zu vermeiden. Das ist einfach mal so eine Ansage.

Fabian Burstein
Ich kann das ganz gut erzählen, wie diese Folge zustande gekommen ist. Ich kenne ja Max Freundschuß aufgrund seines Besuches hier, habe ihn jetzt auch auf der Buch Wien gesehen, habe ihn angesprochen auf das Thema Buchempfehlungen. Und er hat gesagt: "no way, this is not my cup of tea". Das ist ganz klar eine Sphäre von der Katja und dementsprechend muss das so organisiert sein. Ich habe nicht ihn gefragt sozusagen, weil ich nur ihn haben wollte, sondern weil ich wissen wollte, wer könnte bei der "Buchkultur" so was machen. Also auch in der Entstehung kann ich bestätigen, dass ihr da offenbar sehr streng in der Trennung seid.

So vielen Dank, dass du jetzt so ein bisschen in die Werkstatt Einblicke gegeben hast. Das soll ja nicht der Kern unserer Folge sein, sondern du hast uns vier Buchempfehlungen mitgebracht. Ich sag kurz für unsere Hörerinnen und Hörer, was das Briefing war, nämlich dass es in keinster Weise um Aktualität geht oder um einen völlig irren Neuigkeitswert, sondern dass es um eine interessante Mischung geht hinsichtlich etwaiger Bücher, die man unter den Christbaum, unter den Weihnachtsbaum legen könnte, die auf die eine oder andere Art einen Mehrwert bringen. Ja, ich habe keine Ahnung oder ich hatte bis gestern am Abend keine Ahnung, welche Bücher du mitbringen wirst, habe mich dann aber trotzdem noch overnight ein bisschen damit befasst, was du da am Start hast. Und ich würde vorschlagen, wir starten gleich mit dem ersten Titel, Katja.

Katja Schwingshandl

Ja, also vorab noch kurz ein absoluter Luxus für mich, dass ich dir wirklich so vier Titel, die mir auch instant in den Kopf gekommen sind, vorstellen darf. Also das war so quasi ein No-Brainer. Der erste Titel ist der Titel "Nacktschnecken" von Annemarie Andre. Und da passt doch eigentlich ganz gut unser Vorgespräch. Das ist nämlich ganz witzig. Ich war da mal in einer Literaturjury für das Hans-Weigel-Stipendium und da hatte ich den ersten Kontakt mit diesem Text, das war eben noch der Textauszug und der hat mich halt sofort überzeugt. Es ist aus der Sicht eines Kindes geschrieben, was auch in der Rezeption ein bisschen umstritten ist. Das ist die kleine Charlotte. Ich glaube, sie ist acht und wir kriegen einen Einblick über die Charlotte in ein sehr, sehr prekäres Familienleben.

Da ist diese alleinerziehende Mutter, das sind ihre zwei Halbgeschwister. Da ist später, also ich kann gleich ein paar Dinge vorwegnehmen. Die Mutter bekommt ein Hirnaneurysma mit 40. Auch eine sehr dramatische Szene, wo das Kind eigentlich die Mutter so im Bad wiederfindet. Die Mutter kommt dann eben ins Krankenhaus und ist halt von da an eigentlich mehr oder weniger unpässlich. Also bettlägerig, sie kann dann nicht mehr wirklich arbeiten, es geht halt immer weiter bergab. Dann lernt sie über das AMS einen Mann kennen, den Manfred, der ist Alkoholiker. Das sind auch extrem harte Szenen immer wieder, wie dieser Mann irgendwie auch in das Leben von der kleinen Charlotte so eingreift. Mich hat dieses Buch einfach wahnsinnig fasziniert. Also ich habe auch all die Bücher, die ich heute mitgebracht habe, wirklich so in einem Rutsch gelesen. Anscheinend für mich auch ein Qualitätskriterium, dass man da irgendwie nicht aufhören kann, dass einen das irgendwie so wahnsinnig fesselt.

Und eben, was ich anfangs schon gemeint habe, es ist halt einerseits so eine wahnsinnig naive Perspektive von der Charlotte, weil ich glaube, das ist mitunter das Schwerste, was du dir als Autorin aussuchen kannst, dass du diese Perspektive eines Kindes einnimmst und aus der auch schreibst. Und irgendwie, das stimmt schon, weiß die kleine Charlotte zu viel oder interpretiert schon recht viel, was man vielleicht dann doch eher schon älteren Menschen irgendwie eher zuschreiben würde. Aber ich finde trotzdem, dass es wahnsinnig gut aufgeht, weil sie Präteritum geschrieben ist und durch das könnte man sich vorstellen, dass es vielleicht auch so ein bisschen im Nachhinein so. 

Fabian Burstein
Präteritum für alle, die nicht so sattelfest sind, bedeutet?

Katja Schwingshandl
Mit Vergangenheit. Ist das besser?

Fabian Burstein
Ja, tatsächlich. Also ich glaube, es gibt viele Menschen, die Vergangenheiten und so weiter und diese Formen gar nicht in dieser lateinischen Form präsent haben.

Katja Schwingshandl
Okay, ja, ja, wir wollen zugänglich sein, auf jeden Fall. Mitvergangenheit. Genau. Und ja, also das ist schon so der erste Abriss und das, was es für mich halt einfach ausgemacht hat, ist diese. Also ich glaube generell finde ich an Büchern ziemlich toll, wenn es Themen so ein bisschen so mitnimmt. Also wenn man quasi so wie nebenbei irgendwie diesen Einblick in diese eben prekäre, armutsbedrohte Kleinfamilie bekommt. Und genau einfach auch so dieses Klassenbewusstsein so platt gesagt. Genau.

Fabian Burstein

Ich habe, als du diesen Buchvorschlag geschickt hast oder es war ja kein Buchvorschlag, sondern als du mich vor die vollendete Tatsache gestellt hast, dass dieses Buch zum Zug kommen wird, habe ich mich natürlich ein bisschen durch die auch andere Rezensionen durchgewühlt. Und was mir da schon auch Leserinnenrezensionen, was mir da schon untergekommen ist, dass da schon diese Banalität des Alltags sehr zum Tragen kommt. Wie hats die Autorin geschafft, dass das nicht öde, monoton, zu entschleunigt wird? Weil Alltagsbeobachtungen, das ist ja per se jetzt nicht die ganz große literarische Geschichte, sage ich jetzt einmal, sondern verhaftet sehr verhaftet im im banalen Leben. Wie schafft es, dass es eben nicht banal ist?

Katja Schwingshandl
Also erstmal finde ich, dass es das auch deshalb schafft, weil das Buch einfach so knapp ist. Also es ist kein langes Buch und dadurch passiert recht viel eigentlich. Also natürlich sind das Alltagsszenen und so, aber trotzdem, also das handelt sich halt so weiter von so eigentlich für diese kleine Charlotte extrem einschneidende Erlebnisse. Also das kriegt die Autorin halt wahnsinnig gut hin. Das beginnt zum Beispiel. Das ist auch so was, was mir total im Kopf geblieben ist. Ich meine mitunter auch deshalb, weil es der Titel ist Nacktschnecken, aber der Bruder, dieser Marcel, dieser Halbbruder, der baut so Fallen für Nacktschnecken und die müssen dann irgendwie über eine ganz scharfe Kante kriechen und werden dabei halt, weiß ich nicht, halbiert. Und das sind halt total starke Bilder. Oder allein wie diese Mutter dann im Badezimmer hängt und die Sanitäter kommen oder wie dieser Manfred dann das Kinderzimmer betritt und die Charlotte irgendwie davon zu überzeugen versucht, dass sie jetzt mitspielt, dass sie ihn mag.

Fabian Burstein
Manfred ist?

Katja Schwingshandl
Der der Alkoholikerfreund von der Mutter. 

Fabian Burstein

Aja, ja.

Katja Schwingshandl
Genau.

Fabian Burstein
Hast du ja schon erwähnt. Da sieht man auch, ich hab manchmal einen kurzen Kurzzeitgedächtnis. Das so soll ja unser Gespräch auch sein, dass das jetzt nicht wie das literarische Quartett daherkommt, sondern dass wir uns sehr basal einfach einer richtig guten Geschichte annähern. Eine Frage, da hätte ich da noch: Tatsächlich, als ich mitbekommen habe, dass das aus der Perspektive einer Achtjährigen geschrieben ist, diese Frage habe ich mir auch ganz stark gestellt. Wie kann dieser Kunstgriff aufgehen, dass das zum einen authentisch ist? Also die Gedankenwelt und die Gefühlswelt einer Achtjährigen widerspiegelt, aber gleichzeitig auch eine elaborierte Geschichte hergibt? Kannst du da irgendwie noch ein bisschen tiefer eintauchen? Wie ist das gelungen offenbar?

Katja Schwingshandl
Ich finde es so witzig, weil ich musste genau das eigentlich schon mal rechtfertigen. Das Buch stand nämlich auch auf der "Hotlist" und ich war in der Jury für die "Hotlist" und das war auch eigentlich so ein bisschen der Einwand von meinen Mitjury-Kolleginnen. Und der Witz ist, ich kann diese Frage eigentlich kaum beantworten. Das ist eigentlich das Unsympathischste, was man sagen kann, dass man sagen muss, du musst das Buch dafür lesen. Und natürlich ist es so ein bisschen, man kann auch sagen, altklug, weil sie dann eben diese, sie zieht dann eigentlich oft schon so ein Fazit drüber. Sie beleuchtet diese einzelnen Situationen natürlich aus einer Perspektive, die dann schon so ein bisschen drüber steht. Das geht irgendwie nicht anders. Und trotzdem kauft man diesem Kind ab, dass es ein Kind ist.

Fabian Burstein
Das berührt ja ein Thema, das immer mehr in der Literaturszene um sich greift, nämlich die Legitimation, sich in andere Leben reinzuversetzen. Mich hat es jetzt gerissen, wie du das Szenario geschildert hast, weil es ist ein, das Szenario ist vergleichbar mit zum Beispiel einem Wahl-Roman. Caroline Wahl, Entschuldigung.

Katja Schwingshandl
Ich dachte ein Wal.

Fabian Burstein
Das war sehr unpräzise.

Katja Schwingshandl
Ah, spannend. Ja, ja.

Fabian Burstein
"22 Bahnen".

Katja Burstein
Ja, habe ich sogar gelesen.

Fabian Burstein
Ja, und ich jetzt auch kürzlich. Und kurzer Spoiler, dazu wird es nämlich hier am Bühneneingang demnächst eine Folge geben. Ah und genau, und die hat Probleme gekriegt, weil sie sich in eine Lebenswelt reinbegeben hat, wo man klar gesagt hat, das ist nicht die ihre. Und sie kapert jetzt die Probleme, aber auch das Charisma des Prekariats, wenn man so will. Was hat Annemarie Andre gemacht, dass du ihr diesen Vorwurf nicht um die Ohren schleuderst, aber auch ganz ehrlich, warum ist "Nacktschnecken" nicht so erfolgreich wie "22 Bahnen"?

Katja Schwingshandl
Puh, also was man dafür auf jeden Fall mal quasi klarstellen muss, sind bei drei von den vier Büchern, die ich heute mitgebracht habe, ist es sehr wahrscheinlich, dass das stark autobiografisch ist. Das ist ja gerade so überhaupt der Trend schlechthin, dieses autofiktionale Schreiben, wo dann auch die Autorinnen natürlich in Gesprächen nicht direkt, also sie sind nicht ganz klar, was da jetzt wirklich aus ihrem Leben genommen ist oder nicht. Ein bisschen ein Mysterium muss schon auch bleiben, aber so blöd das klingt, ich kann mir vorstellen, dass ich da einfach sehr viel von der Autorin mit hineingelesen habe und ihr das auch deshalb geglaubt hab. Was vielleicht bei der Caroline Wahl im Unterschied dazu allein auch von dieser, also ich glaube, sie gibt sich einfach wahnsinnig unnahbar. Auf ihrer Instagram-Seite steht, glaube ich, so, sie ist erfrischend, also das ist quasi auch ein Adjektiv, das sie sich selbst zuschreibt. während die Annemarie Andre da, glaube ich, relativ stark am Boden bleibt geblieben ist, was auch wiederum dazu passen würde, dass dieses Buch vielleicht doch mehr Anleihen aus ihrer eigenen Geschichte genommen hat, als das vielleicht bei der Caroline Wahl ist. Und bei der Caroline Wahl, schätze ich, ist es einfach dieses Frechheit siegt. Ich muss auch sagen, ich bin selbst immer so zwiegespalten so. Natürlich starke Frau und auch dieses, ich glaube, sie hat ja sich vor einem Jahr oder so zum ersten Mal mal so ein bisschen beschwert, warum sie nicht eigentlich auf der Longlist zumindest für den Deutschen Buchpreis steht und so. Alles völlig legitim. warum sie dann am Ende so erfolgreich ist, gut. Ich glaube, das sind Zufälle, das sind natürlich die Verlage einfach, wo du hingespült wirst. Ich glaube, in der Buchbranche ist generell alles irgendwo ein Zufall. Wer was in dir sieht, zu welchen Agenturen du dann gespült wirst. Ich glaube, das sind so diese Dinge im Hintergrund, da kann man reinschauen, wenn man will. Aber ja, ich weiß gar nicht, ob man das dann so entmystifizieren will. Aber Faktum ist natürlich, dass das jetzt zwei so völlig vielleicht ähnliche Bücher sind. Ich finde das andere, also ich finde "Nacktschnecken" also wirklich deutlich besser als "22 Bahnen". Und ja, das ist halt die wilde Welt der Bücher.

Fabian Burstein
Du hast Verlage angesprochen. Wir kommen bei dem Buch jetzt ein bisschen schon zum Ende, weil wir haben uns ja viel vorgenommen für die Folge. Vielleicht noch zwei, drei Sätze zum Verlag "Müry Salzmann", ein nicht so bekannter Verlag, aber doch ein bemerkenswertes Haus.

Katja Schwingshandl

Absolut. Eigentlich kann ich da gar nichts hinzufügen. Ja, voll.

Fabian Burstein
Und in Österreich ansässig.

Katja Schwingshandl

In Österreich, genau. Und es lohnt sich immer wieder, da einen Blick ins Programm reinzuwerfen.

Fabian Burstein
Na, dann lass uns jetzt vom "Müry Salzmann"-Verlagsprogramm zu einem anderen Verlagsprogramm kommen und dort zu einem anderen Buch. Was möchtest du als zweites auf den Tisch legen?

Katja Schwingshandl
Vielleicht gehen wir direkt weiter mit "Ostblockherz" von Didi Drobna.

Fabian Burstein
Sehr gut.

Katja Schwingshandl
Genau, sie lebt ja auch in Wien, wobei auch. Das stimmt nicht, die Annemarie Salzmann. Salzmann. Annemarie Andre lebt ja in den Niederlanden. Ja, genau. Und Didi Drobna hat mit "Ostblockherz" auch ein sehr, sehr autobiografisches oder zumindest autofiktionales Werk geschrieben. Das Ganze ist in der Ich-Perspektive. Das heißt, das macht es noch mal leichter, ihr diese ganzen Dinge auch zu unterstellen, die sie da beschreibt. Soll ich mal ein bisschen in den Inhalt gehen?

Fabian Burstein
Bitte, damit wir einen Überblick kriegen. Um was geht es da eigentlich? Was ist die Geschichte?

Katja Schwingshandl
Ja, die Geschichte ist die. Eigentlich einerseits die Geschichte von einer Tochter zu ihrem, also die Beziehung einer Tochter zu ihrem Vater, ein Migrationsgeschichte, alles das ist total stark miteinander verknüpft. Die Geschichte von einem jahrelangen Schweigen eben zwischen Tochter und Vater, der Wiederaufnahme der Beziehung aufgrund eines gesundheitlichen Zustands des Vaters. Also ich glaube, er hat irgendwie Bauchspeicheldrüsenkrebs, wenn ich mich jetzt gerade richtig erinnere. Und dann eben so ein bisschen in Rückblenden die Geschichte des Aufwachsens von dieser Tochter, dieser Ich-Erzählerin, wie sie sich in Wien zurechtgefunden hat, wie sie extrem schnell eigentlich auch in die Sprache. Also in dem Buch dreht sich alles ganz stark auch um Sprache. Also sie sind eben aus der Slowakei nach Wien gegangen. Die kleine Ich-Erzählerin ist auch in Wien in die Schule gegangen und hat eben ihrem Vater und überhaupt ihrer Familie quasi alles übersetzen müssen. Und genau, also das ist so ein bisschen der etwas diffuse Abriss.

Fabian Burstein
Der Plot.

Katja Schwingshandl
Der Plot, genau.

Fabian Burstein
Aber man könnte sagen zusammenfassend, es ist so eine Ost-West-Geschichte. Es ist eine Geschichte, die im 20. Jahrhundert spielt, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, glaube ich. 70er-Jahre kann das sein?

Katja Schwingshandl
Habe ich jetzt gerade auch gar nicht so parat.

Fabian Burstein
Aber so um den Dreh rum wird das passen, oder?

Katja Schwingshandl
Ja, vielleicht so 80er hätte ich jetzt gesagt.

Fabian Burstein
Also logischerweise vor der die. Oder die Fluchtgeschichte ist vor der Wende.

Katja Schwinshandl
Genau.

Fabian Burstein
Eh klar, weil sonst wäre es ja keine Fluchtgeschichte. Aber dieses Binnenverhältnis zwischen Ost und West spielt, glaube ich, eine große Rolle. Und es ist auch ein Familienroman in gewisser Weise. So, provokante Frage: Ziemlich doch konventionelle Ingredienzien?

Katja Schwingshandl
Genau das.

Fabian Burstein
Warum mach ist diese Geschichte für dich trotzdem so besonders? 

Katja Schwingshandl
Lustig, da finde ich es wieder extrem leicht zu beantworten. Die Didi Drobna macht das mit einem dermaßen feinen Humor fast schon manchmal böse, so fast zynisch sarkastisch, aber so wirklich dermaßen. Sie hat irgendwie, wie es hätte sie schon so abgeschlossen mit dem, dass das irgendwie extrem viel, extrem schwierig war und auch eben relativ kondensiert, also relativ stark auf so Anekdoten endlich konzentriert. Und also ich würde aber hauptsächlich wirklich sagen, dass es in dem Falle dieser Witz ist, der das Buch so extrem besonders macht. Und einen so leicht auch in so eine Geschichte eintauchen lässt, die uns natürlich in Wien Lebende irgendwo auch wahnsinnig nah ist. Ich finde es extrem cool, quasi Leute, die einem vielleicht alltäglich in der Straßenbahn begegnen, dass man sich da endlich ein bisschen mehr reinversetzen kann, dass man endlich so ein bisschen mehr eine Ahnung hat, wie schwer das eigentlich ist, wenn die Eltern nicht gut Deutsch sprechen zum Beispiel.

Fabian Burstein
Interessanter Punkt. Das heißt, du siehst in diesem Buch auch eine starke alltagspolitische Komponente. Es stärkt schlicht und ergreifend die Empathie.

Katja Schwingshandl
Absolut, genau. Und das ist ja auch das, ich glaube, das hat der Andreas Babler bei der Eröffnungsrede von der Buchmesse gesagt, das Hauptding, warum er liest,

Fabian Burstein
Ist Empathie?

Katja Schwingshandl
Ja, Empathiestärkung.

Fabian Burstein
Hat er einen guten Satz rausgehauen quasi, na.

Katja Schwingshandl
Genau. Hat ihm jemand gut geschrieben die Rede.

Fabian Burstein
Vielleicht war es auch sein Impuls. Kann auch sein.

Katja Schwingshandl

Vielleicht. Vielleicht erfahren wir es ja.

Fabian Burstein
Ja, genau. Gut, "Ostblockherz", doch ein recht erfolgreicher Roman, muss man sagen, Ist erschienen bei Piper.

Katja Schwingshandl

Genau.

Fabian Burstein
Gut, aus meiner Sicht gut zusammengefasst. Ich glaube, wir können zum nächsten Buch gehen.

Katja Schwingshandl

Oder darf ich noch eine Anekdote aus dem Buch wiedergeben, also die mir total stark im Kopf geblieben ist. Und zwar ist es diese Szene, wo sich die Ich-Erzählerin, also sie bekommt einen Anruf von den Ärzten ihres Vaters im Krankenhaus. Zu dem Zeitpunkt ist noch nicht ganz klar, was er hatte. Und der Vater schafft es halt nicht, mit den Ärzten zu kommunizieren. Also die verstehen sich nicht allein das medizinische Vokabular, alles. Das ist extrem exkludierend für den Vater.

Fabian Burstein
Auch. Entschuldigung. Eine tolle Szene mit Alltagsbezug, denn das sind ja wirklich teilweise herzerweichende Szenen in Ambulanzen,

Katja Schwingshandl
Absolut. Genau. 

Fabian Burstein
Die man erlebt, dass einfach Menschen mit Migrationsgeschichte unglaubliche Probleme haben, sich in Notsituationen auch verständlich zu machen und auch da heraus sehr, sehr unangenehme und auch traumatische Erlebnisse haben, weil sie in ihren Leiden und auch in der Bedrohlichkeit nicht wahrgenommen werden.

Katja Schwingshandl
Genau, genau. Und dann ist halt diese, also man fühlt es total stark. Die Ich-Erzählerin hat halt diesen absoluten Stress. Sie muss in die Arbeit. Sie hört nichts am Handy, deshalb drückt sie sich in diesen Hauseingang und dann bekommt sie da von dem Arzt irgendwie genau mitgeteilt, was der Vater hat oder ich glaube auch, was für Medikamente er braucht. Irgendwie die weitere, das weitere Prozedere ausschauen muss und also allein diese ganze Situation und so, das ist so eindrücklich und sogar, also irgendwo auch komisch auf so eine Art und Weise. Genau, das hat mich sehr, sehr beeindruckt.

Fabian Burstein
Danke, dass du mich gebremst hast beim weiterswitchen zum nächsten Buch. Das war noch ein wichtiger Punkt. Und anhand dieses Punktes möchte ich dir noch eine Frage stellen an dich persönlich. Ist es bei dir auch so wie bei mir zum Beispiel bei Liedern, dass du auch die Assoziation hast, wo du dieses Buch gelesen hast oder in welcher Lebensphase?

Katja Schwingshandl
Saulustig. Ich habe mir bevor ich hierhergekommen bin, genau das gedacht, dass ich bei jedem einzelnen Bücher halt weiß, wo ich es gelesen habe. Ich meine in dem Fall sehr unspektakulär einfach am Sofa, wirklich an einem Vormittag. Genau, aber ich kann mich auch bei jedem Buch genau erinnern ja.

Fabian Burstein
Na gut, weil wir diesen Schmäh jetzt nicht gemacht haben beim ersten Buch. Wo hast du "Nacktschnecken" gelesen?

Katja Schwingshandl
"Nacktschnecken" habe ich gelesen, da war es warm, da war ich auf meinem Balkon und habe das so am Sofa dort gelesen.

Fabian Burstein

Auch schön wichtig, auch für eine Buchspezialistin, gute Leseorte zu haben.

Katja Schwingshandl
Kann ich nur unterschreiben. Genau, ja.

Fabian Burstein
Gut. Was ist deine nächste Wahl, die du hier ausrollst?

Katja Schwingshandl
Die nächste Wahl: Leon Engler, "Botanik des Wahnsinns". Habe ich bei meinem Freund am Balkon sitzend gelesen. Das ist immer sehr gefährlich, weil da sitze ich immer so relativ weit oben und es geht relativ weit runter, aber ich halte mich immer gut fest.

Fabian Burstein
Aber er hat schon ein Geländer, das der Balkon?

Katja Schwingshandl
Ja genau. Aber das ist dieses am Rande des Wahnsinns. Am Rande des Balkons hat irgendwie gut gepasst. Also lustigerweise heißt der Protagonist des Romans von Leon Engler auch Leon. Laut ihm sind aber nur 30 Prozent von ihm selbst. In diesem Text oder vielleicht ein bisschen mehr.

Fabian Burstein
Was? Er kann das so benennen?

Katja Schwingshandl
Ja, ja genau. 30 Prozent. Der kokettiert damit immer ein bisschen in den Interviews, weil natürlich wirst du das gefragt, wenn die Person, der Protagonist genauso heißt wie du. Aber es ist natürlich ein bisschen riskant, sage ich mal, in einem Roman, wo es um die Grenze zwischen Normalität und Wahnsinn geht, zu sagen, dass es wirklich komplett autobiografisch sei. Deshalb. Genau, es startet damit und ich habe bei diesem Buch lustigerweise schon ein Leseexemplar bekommen, daran kann ich mich gut erinnern. Und dann habe ich reingelesen und es beginnt damit, dass der Protagonist so ein bisschen erzählt, dass quasi in seiner Familie der Wahnsinn sitzt. Also es gibt wahnsinnig viele Diagnosen.

Ich glaube Borderline, Schizophrenie, Depression. Und seine Hauptfrage ist: Wie schaffe ich es, dass das nicht an mich weitergegeben wird? Weil endlich ist das schon so eine gegessene Sache. Genau. Und ist irgendwie in der Wohnung von seiner Mutter, die wird ausgeräumt. Also das ist so die zweite Geschichte, die wird ausgeräumt. Und das Ganze wird in zwei unterschiedliche Teile von Kisten quasi geräumt. Also einerseits so unnötiges und andererseits eher so wichtige Erinnerungsstücke. Und dann schmeißt diese Firma, die dafür beauftragt wurde, das wegzuwerfen, das Falsche weg.

Die schmeißen alle Erinnerungen weg. Deshalb muss er quasi jetzt überhaupt noch mal von vorne diese Familiengeschichte rekonstruieren. Genau, und wir tauchen da ein. Also das sind immer sehr kurze Kapitel. Leon Engler schreibt auch extrem kondensiert. In. Also ich habe irgendwie jeden einzelnen Satz, der am Ende eines Kapitels gestanden ist, da sammelt sich irgendwie immer noch mal alles unterstreichen müssen, weil es einfach immer wirklich so unglaublich schöne Sätze auch sind. Also richtig poetisch. Man merkt einfach, wie wahnsinnig lange er auch an diesem Buch gearbeitet hat.

Fabian Burstein
Wie lange? Weißt du das?

Katja Schwingshandl
Also ich weiß einfach nur mehrere Jahre, aber ich weiß, dass halt unendlich viel von ihm produziert worden ist, dass dann halt wieder irgendwie, ich glaube, er wollte sogar auch endlich ein Sachbuch mal draus machen. Also es wurde irgendwie. Ja, also es waren sehr unterschiedliche Zugänge dann zu diesem Buch. Genau. Und das, was es jetzt wurde, ist eben in sich perfekt, würde ich sagen.

Fabian Burstein
Aber wie genau zeigt sich dieser Titel dann in der Geschichte? Die "Botanik des Wahnsinns"? Das ist ein toller Titel. Also ich habe früher auch im Verlagswesen gearbeitet und die Titelsuche ist immer eine große Sache, weil der soll was erzählen, aber gleichzeitig auch mythische, eine mythische Komponente haben. Was ist die Botanik des Wahnsinns in diesem Buch? Wie sind da die Bezüge dazu?

Katja Schwingshandl
Ja, also ich schätze, es hat jetzt auch stark damit zu tun, dass es eben vielleicht diese Sachbuchkomponente hat. Er beschreibt doch immer, es gibt sehr viele Passagen, wo wirklich so generell auch über die Geschichte der Psychiatrie geschrieben wird. Und ich glaube, diese erste Einteilung auch vom Menschen, oder nagel mich jetzt nicht drauf fest, aber von diesen psychischen Krankheiten, da gibt es ja immer dieses Krankheitsverzeichnis irgendwie, wonach dann die Diagnosen gehen und so. Und das geht dann zum Beispiel zurück. Ich glaube

Fabian Burstein
ICD.

Katja Schwingshandl
ICD, genau. Und das geht dann zurück auch auf Carl von Linné, der ja eigentlich eher mit Biologie in Zusammenhang gebracht wird. Und das ist meiner Erinnerung nach in dem Buch eben ein relativ zentraler Punkt, der sich auch im Cover widerspiegelt. Also das sind auch so relativ. Weiß ich nicht, uneindeutige, aber halt so Pflanzengewächs irgendwie drauf zu sehen. Und da wird einfach diese Analogie gezogen, also dieses Einteilbare des Menschen. Mensch.

Fabian Burstein

Im Übrigen ja ein ganz häufiges Sujet, auch in der bildenden Kunst, die Verbindung quasi die Gewächse der Seele und die Gewächse der Natur. Also diese Analogie wird ja gerade was Psyche betrifft, sehr oft hergestellt. Also er er verwendet da offenbar ein archetypisches Bild. Immer wenn ich über Psychiatriebücher stolpere, nicht immer. Blödsinn, aber oft, wenn ich über Psychiatriebücher stolpere, wurscht ob Fiction oder Nonfiction, geht es auch häufig um das Thema Machtmissbrauch interessanterweise. Also das Thema Psychiatrie ist ja sehr häufig konnotiert, auch mit Psychiatriekritik. Du hast es ja gesagt, es hat auch so ein bisschen was chronologisches. Er erzählt die Geschichte des Anstaltswesens. Früher hießen diese Einrichtungen ja Anstalten. Spielt das da auch eine Rolle oder gar nicht?

Katja Schwingshandl
Also das Gefühl, das in mir zurückgeblieben ist, worum woran sich dieser Roman eher abarbeitet. Ich würde jetzt gar nicht so sagen, dass es eine Frage von Machtmissbrauch oder so ist. Also meiner Auffassung nach ist das mehr ein Eingliedern des Wahnsinns in die Normalität. Also allein das, dass der Protagonist, dieser Leon, sich damit auseinandersetzt, weil er eben Angst hat, selbst verrückt zu werden und dann schon auch in der Psychiatrie landet, aber als Psychologe. Und da gibt es eben auch einmal diese Szene, wo ich kann es gerade nicht mehr so ganz genau rekonstruieren, aber auf jeden Fall wird angesprochen so, was ist schon groß der Unterschied. Ich bin an diesem Ort so, ob ich jetzt einer von den, sagen wir, Verrückten bin oder ob ich da jetzt der Psychologe bin. Es ist eigentlich schon fast wurscht.

Und auch ein bisschen so diese Genese von den Krankheiten, von den Familienmitgliedern einfach, dass das so, es wird relativ stark in den Vordergrund gestellt, dass das eigentlich in jeder Familie so passieren kann, dass das Teil unserer Normalität auch sein sollte und vielleicht auch so ein bisschen, dass die psychisch Erkrankten so weggesperrt werden. Ich könnte mir vorstellen, eben wie gesagt, es ist schon ein bisschen her, dass ich das gelesen habe, da war es auf jeden Fall noch Sommer, aber das ist sicher auch ein wesentlicher Punkt. Und das ist so dieses Grundgefühl, das mir geblieben ist nach diesem Buch. Also eher so diese Aufweichung und eher so dieses, im Endeffekt geht er halt dieser Geschichte nach und auch dieses Verständnis für seine eigene Familie, was dann auch gleichzeitig so eine sehr kathartische Wirkung hat, so was Versöhnliches, diese Angst, die er zuvor hatte. Und indem er sich so ein bisschen reinschreibt in seine eigene Familiengeschichte, löst sich das so ein bisschen auf.

Fabian Burstein
Mir fällt etwas auf, in drei von drei Büchern, die du da jetzt genannt hast, spielt die Familie eine enorm große Rolle, also Familienromane. Ist das dein persönlicher Geschmack, dass du sagst, ich liebe solche Geschichten, in denen Familie und ihre Verstrickungen eine Rolle spielen? Oder würdest du sagen, das ist einfach eines der Grundmotive von guter Literatur?

Katja Schwingshandl

Ja, letzteres definitiv letzteres. Jetzt überlege ich gerade. Also gibt so viele Romane, wo Familie keine Rolle spielt. Ich denke mir selbst wenn Familie quasi nicht irgendwie in den Vordergrund gestellt wird, ist dann selbst diese Lücke, dass sie quasi nicht thematisiert wird, irgendwie Thema. Also ich glaube, gute Romane können das, dass sie auf das, was uns alle immer beschäftigt, eben auch so eingehen. Und ich glaube, jeder hat irgendwelche Familienthemen.

Fabian Burstein
Abschließende Frage: Welche, welchem prototypischen Verwandten würdest du Botanik des Wahnsinns unter den Christbaum legen?

Katja Schwingshandl
Tatsächlich allen. Ich wirklich allen. Also ich glaube, das ist wirklich ein Buch, mit dem jeder was anfangen kann. Ich würde mich da jetzt gar nicht kaprizieren. Tante, Onkel sowas

Fabian Burstein
In diesem Sinne: Leon Engler, "Botanik des Wahnsinns", erschienen bei DuMont. Dein letztes Buch.

Katja Schwingshandl

Mein letztes Buch, genau. Also ich habe dann noch mitgebracht den diesjährigen Gewinner des Booker Prize. Da habe ich auch irgendwie einen extrem starken Bezug dazu, weil ich bin immer ein bisschen stolz, wenn ich die Bücher schon lese oder schon am Radar habe, bevor sie die Preise abstauben. Also David Szalay, "Was nicht gesagt werden kann". Ich tue mir bei dem Titel immer wahnsinnig schwer, muss ich echt sagen. Also der englische Titel "Flash" ist da schon ein bisschen.

Fabian Burstein
Ah, okay.

Katja Schwingshandl
Genau. Das merkt man sich irgendwie leichter.

Fabian Burstein
Das heißt, das habe ich überhaupt nicht mitgekriegt. Das heißt, "Was nicht gesagt werden kann", heißt im Englischen eigentlich "Flash"?

Katja Schwingshandl
Verrückt, oder?

Fabian Burstein
Kann man sagen, ist schon ein bisschen ein Rückschritt, was die Eingängigkeit betrifft. Ich möchte jetzt nicht sagen, was die Qualität betrifft, aber was die Eingängigkeit betrifft.

Katja Schwingshandl
Genau, genau da hätten sie jetzt Glück, würde ich sagen, dass das den Booker Prize abgestaubt hat. Genau, also in dem Buch geht, oder vielleicht fange ich anders an. Ich habe das, das ist immer recht witzig, wie ich dann auch zu den Büchern komme. Ich habe das halt relativ naiv in der Vorschau gesehen. Dann habe ich es einem Rezensenten von uns weitergegeben, der war so, ja, eh gut. Dann habe ich, also ich kenne einen Redakteur aus London, der auch für so ein Literaturmagazin schreibt und der hat quasi zwei Bücher, quasi aus die männliche Literatur ein bisschen repräsentieren und eben für den Booker Prize nominiert sind, so stark hervorgehoben und das war eins davon. Dann habe ich seinen Text gelesen, dann war ich irgendwie so eingenommen, dann habe ich das Buch auch lesen müssen, weil, und das kommt ja auch nicht immer vor, dass die Bücher dann tatsächlich schon übersetzt sind.

Also das ist auch total spannend, wonach die Verlage da gehen, welche Bücher, welche Titel sie einkaufen. Und ich glaube, da waren insgesamt, also ich glaube, ein, zwei Bücher waren schon übersetzt und das war eben eins davon. Und ich finde dieses Buch, also es geht um einen Ungarn, István, wir steigen ein in seiner Teenie-Zeit, in seinen Jugendjahren und da passiert was, da passiert was sehr Traumatisches. Das hat was mit einer Affäre zu tun, die er zu einer sehr viel älteren Frau hat. Er kommt dann danach auch ins Gefängnis und man begleitet ihn wirklich eigentlich durch sein ganzes Leben. Es verschlägt ihn dann nach London. Es passieren einfach sehr viele sehr einschneidende, dramatische Dinge. Und das Besondere an dem Buch ist tatsächlich dieser Ton, dieses Dahinplaudernde, dieses sehr wenig Reflektierende, dieses sehr stark auf einfach nur diese Geschehnisse eingehend und wenn man so will, auch diese Abbildung eines, in dem Fall eben männlichen Denkens.

Das ist auch etwas, das hat er in dieser Gewinnerrede des Booker Prize eben gesagt, er ist ein großes Risiko eingegangen. Und ich finde, das sieht man am Anfang jetzt gar nicht so. Hä, wo liegt das Risiko? Aber es ist halt dieses: Okay, ich erzähle ein, sagen wir, ein bisschen durchschnittliches, aber natürlich auch tragisches. Es ist wirklich recht tragisch, also ich möchte nicht spoilern, aber männliches Leben. Und genau, er beschreibt das allein auch mit diesem Titel "Flash". Ich würde sagen, das ist, wenn man es so übersetzen möchte, auch eher so die Verkörperung, dieses Embodiment irgendwo von diesem Leben. Und genau, er hat das eben einfach als Risiko beschrieben, in unserer Zeit so einen Titel rauszubringen. Und der Autor David Szalay, der lebt tatsächlich in Wien. Genau, auch recht spannend, finde ich. Also.

Fabian Burstein

Eine Frage: Von den vier Titeln, die du genannt hast, kannte ich zwei und einen habe ich gelesen tatsächlich. Also 25 Prozent deiner Empfehlungen habe ich gelesen. Und dieses Buch "Was nicht gesagt werden kann", von dem habe ich nichts mitbekommen. Ich habe nicht einmal mitbekommen, dass das so ein renommierter Preis damit gewonnen wurde. Ich weiß auch nicht warum. Und ich habe dann den Titel gegoogelt ja. Also ich bin wirklich völlig blank in das Thema in dieses Buch reingegangen. Und ich finde, das Phänomen ist das, was ich so an Beschreibungen gefunden habe, passt überhaupt nicht zusammen mit dem, was du erzählst.

Katja Schwingshandl

Erzähl, was hast du für Beschreibungen gefunden?

Fabian Burstein
Zum Beispiel, ich hatte in einer Kurzzusammenfassung habe ich mitbekommen, das sei ein Erzählband mit verwobenen Geschichten.

Katja Schwingshandl
Okay, witzig. Ja, also kann ich mir so auch kaum erklären. Ich mein gut, wenn man diese unterschiedlichen Episoden seines Lebens, die ja dann doch irgendwo aneinander gestückelt sind. Ja, aber ich würde es auf keinen Fall so beschreiben. Nein, nein, für mich ist das schon sehr zusammenhängend.

Fabian Burstein

Total interessant, ja

Katja Schwingshandl
Witzig.

Fabian Burstein
Weil das sind ja zwei verschiedene Lebensgefühle. Wenn ich sage, ich begleite jemanden fast wie in einem ewigen Coming of Age-Roman durch sein ganzes Leben mit allen Licht und Schattenseiten. Oder wenn ich das Gefühl habe, okay, ich habe da ein paar Geschichten, die zwar miteinander verwoben sind, aber im Wesentlichen halt aneinandergereiht Erzählungen. Das ist ja ein völlig anderes Flair, oder?

Katja Schwingshandl
Absolut, ja. Vielleicht hängt das auch damit zusammen, wenn man irgendwie Bücher auf relativ kleinem Raum zusammenfassen muss, dann kommt halt total stark die persönliche Perspektive auf das raus und dann kann das extrem unterschiedlich aussehen. Das probiere ich übrigens auch immer wieder bei "Buchkultur" aus. Wenn man quasi dasselbe Buch zwei verschiedenen Rezensentinnen gibt, hat man oft den Eindruck so, hä, ist ein anderes Buch.

Fabian Burstein
Absolut, absolut. In der Geschichte, du beschreibst es ja auch ein bisschen, oder habe ich das richtig verstanden? Da ist auch viel Lakonisches drinnen. Also dass das Thema, dass es da auch Lücken gibt, das spricht ja schon ein bisschen für diesen Erzählband. Also sprich, das nicht alles jetzt in einem Guss stringent sich aneinanderreiht , dass da Leerstellen auch sind, vielleicht auch wo Schweigen herrscht. Ist das ein richtiger Eindruck oder habe ich da jetzt zu viel reinprojiziert?

Katja Schwingshandl
Nein, nein. Also ich würde schon sagen, dass gut, diese Anfangsszene, ich kann es ja sagen, also er tötet den Ehemann von dieser Frau, mit der er die Affäre hat, eben die wohnen im selben Haus. Das wird noch ziemlich deutlich beschrieben und das stimmt dann danach. Also es gibt dann immer so von Kapitel zu Kapitel Lücken und oft wird das Schlimme quasi, was passiert, auch nicht dann in Worte gefasst. Aber das macht es für mich trotzdem nicht zu einem Erzählband.

Fabian Burstein
Okay.

Katja Schwingshandl
Ich widerspreche hart. Und und dieses Buch ist eben auch wieder so ein Buch, wo ich sage, das muss man halt irgendwie gelesen haben, weil gerade dadurch, gerade durch diesen Anspruch, dass es so wahnsinnig endlich körperlich ist, dass es sich auch.

Fabian Burstein
warum körperlich?

Katja Schwingshandl
Weil es eben relativ stark einfach auf diese Empfindungen geht. Oder zum Beispiel gibt es auch oft einfach Sexszenen. Also ich habe das Gefühl, die sind alle irgendwo für den Protagonisten enden, die irgendwie alle negativ. Das ist alles, das ist so ein Getrieben sein und das Getrieben sein kommt irgendwie von diesem Körperlichen. Und das ist, finde ich, etwas, was sich, das ist wirklich bei jedem Buch anders, aber was sich zum Beispiel in Rezensionen vielleicht auch wahnsinnig schlecht oder schwer abbilden lässt. Wer mehr, als dass man sagen kann, ja, es ist halt irgendwie so getrieben oder da steckt eben dieses Fleisch dahinter. Genau. Und ich finde, das macht dieses Buch ein bisschen aus, dass das wie so eine Lese-Performance dann wird. Also wenn man das liest, dass man da auch so atemlos mit dem mitlebt und da ist eher dieses Leseereignis das große Ding und nicht so das, was man danach drüber sagen kann, was dann vielleicht mit dem Titel wieder zusammenpasst. Insofern ist der deutsche Titel natürlich nicht komplett random gewählt. Aber genau, es ist relativ schwierig, eigentlich über ein Buch zu reden, das heißt "Was nicht gesagt werden kann".

Fabian Burstein
Katja, vielen Dank für diesen vierten Buchtipp. Eine Sache ist mir aufgefallen. Ich habe dir wirklich quasi eine Carte Planche gegeben und du hast kein einziges Sachbuch mitgebracht. Woran liegt das?

Katja Schwingshandl
Ja, das liegt tatsächlich einfach an meinen eigenen Vorlieben, aber auch an meiner Überzeugung, dass die wichtigsten Themen und das, was im Leben wichtig ist, eigentlich immer nur, das kommt übrigens auch bei Leon Engler vor, immer nur erzählt werden kann. Das kann man immer nur mitfühlen mit den Leuten. Und Sachbücher sind mir da oft zu wenig nah dran.

Fabian Burstein
Zu nüchtern.

Katja Schwingshandl
Zu nüchtern, genau. So sehr ich es liebe, auch in spannende Themen einzutauchen, aber das ist mein Zugang zum Leben.

Fabian Burstein
Okay, das ist eine wichtige Info für die Hörerinnen und Hörer, nämlich. Ich habe dich nicht gezwungen, dass du eine quasi eine Literatur, eine romanhafte Folge mit mir gestaltest, sondern ich hab nimm die vier Bücher mit, die du empfehlen würdest. Und es war halt kein Sachbuch dabei.

Katja Schwingshandl
Genau. Und im Endeffekt, oder wenn man es so betrachtet, also es war irgendwie Klasse, Männlichkeit, Wahnsinn, Migration. Also ich glaube, dass man da auch genug daraus ziehen kann für sich.

Fabian Burstein
Ja, abschließend, es steht ja auch eine Weihnachtsnummer der "Buchkultur" ante portas. Wann erscheint die?

Katja Schwingshandl
Wir erscheinen am 5. Dezember das neue Heft. Das wurde gestern abgegeben.

Fabian Burstein
Ah ja genau. Wir nehmen gerade am 19. November auf. Das kann man, kann man ja gut sagen. Das heißt 18. November war das "Buchkultur"-Team ziemlich im Stress, weil die Weihnachtsnummer für wann 5. oder 6.?

Katja Schwingshandl
5. Dezember, genau. 

Fabian Burstein
Für 5. Dezember fertig werden musste, in den Druck gegangen ist und dann im Handel liegt. Wo kann man Buchkultur kaufen? Kiosk?

Katja Schwingshandl
Genau, am Kiosk natürlich in unserem Online Shop. Wir liegen oft in so Bahnhofskiosks und so auf. Also genau. Man muss nur gut schauen.

Fabian Burstein

Man muss nur gut schauen. Liebe Katja, vielen Dank, dass du diesen Ritt mit mir gewagt hast. Vier subjektive, aber dann auch wieder hochgradig von Expertise getragene Empfehlungen. Ich werde mir ein oder zwei Bücher davon definitiv jetzt kaufen. Vielen lieben Dank und vielleicht bis bald.

Katja Schwingshandl

Ja, danke für die Einladung.

Autor:in:

Fabian Burstein

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