Die Dunkelkammer/Schafft Wissen
Schafft Wissen. ME/CFS: Eine verdrängte Realität - mit Michael Stingl

Von Matthias Farlik, Edith Meinhart und Michael Nikbakhsh. Dunkelkammer #260 ist wieder eine Ausgabe aus der Reihe Schafft Wissen. Heute sprechen wir über eine Erkrankung, die in weiten Teilen der Ärzteschaft einen schweren Stand hat; mit teils schwerwiegenden Folgen für die Versorgung Betroffener. ME/CFS, die Kurzform für „Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue-Syndrom“, wird vielfach nicht erkannt oder erst gar nicht anerkannt. Im Studio ist dazu der Wiener Neurologe und ME/CFS-Spezialist Michael Stingl.

Matthias Farlik
Ich begrüße Sie zu einer neuen Folge der Dunkelkammer aus unserer Reihe Schafft wissen wir, mein Name ist Matthias Farlik und ich habe heute die Ehre, diese Folge zu moderieren, denn ab heute fügen wir unserem Format einen weiteren Aspekt hinzu. Dieses Mal steht unsere Folge ganz im Zeichen einer Erkrankung, die laut Pensionsversicherung und Krankenversicherungsverbund und eigentlich auch in weiten Teilen der Ärzteschaft nicht als Erkrankung angesehen bzw. anerkannt wird. Dennoch gehen die Zahlen der Betroffenen allein in Österreich sagt man zumindest in die Zehntausende mit wahrscheinlich um die 80.000 Betroffenen. Die Dunkelziffer wird wahrscheinlich noch weit höher sein. In dieser Folge geht es um ME/CFS. Viele hören den Begriff wahrscheinlich zum ersten Mal und allein das ist schon Ausdruck einer Ohnmacht, in der wir uns als Gesellschaft hier befinden.

Denn für viele existiert auch in der Ärzteschaft diese Erkrankung einfach nicht. Ist es gerechtfertigt, die Erkrankung als solche nicht anzuerkennen oder ist das Problem vielschichtiger? Um Licht in diese verwirrende Faktenlage zu bringen, haben wir heute hier im Studio Edith Meinhart.

Hallo Edith.

Edith Meinhart

Hallo.

Matthias Farlik

Michael Nikbakhsh, Hallo Nik.

Michael Nikbakhsh

Hallo.

Matthias Farlik

Und erstmalig in unserem Format einen Gast als Leuchtfeuer, wenn man so will, für alle ME/CFS Betroffenen, der Hoffnung schenkt. Dr. Michael Stingl.

Michael Stingl

Hallo Michi, Hallo, danke für die Einladung.

Matthias Farlik

Wir sind tatsächlich als Kollegen schon länger im Austausch und deshalb auch per Du, Aber ich würde sagen, bevor ich jetzt anfange, dich näher vorzustellen, frage ich dich, stell du dich bitte mal unseren Hörern und Hörerinnen mal vor. Wer bist du, wer ist Dr. Michael Stingl und wie kommst du zur ME/CFS?

Michael Stingl

Also nochmal danke für die Einladung. Ich bin Neurologe, niedergelassen seit ein paar Jahren und bin vor circa acht Jahren über dieses Thema einfach drüber gestolpert. Und ansonsten wäre ich wahrscheinlich irgendwie ein Durchschnittsneurologe ohne besonders Spezialisierung. Ich bin wahrscheinlich nur immer Durchschnittsneurologe, aber ich habe halt dieses Thema entdeckt und wenn man es einmal entdeckt hat, dann lässt es auch nicht mehr los, weil es einerseits medizinisch spannend ist und andererseits natürlich durchaus was ist, was momentan ein bisschen pressiert, auch durch die Pandemie verschärft. Also deswegen sitze ich jetzt da, schätze ich.

Matthias Farlik

Definitiv. Also wir nutzen das ja auch ein bisschen, als kann man so Auftakt würde wahrscheinlich da nichts sagen. Das ist eines seiner Lieblingswörter zu einer doch etwas ausufernden Geschichte darüber unserer Covid-Pandemie und all den Nachwehen. Und ME/CFS ist sicherlich eines der Dinge, die uns jetzt noch akut beschäftigt. Und deswegen denke ich, ist es ein sehr gutes Thema, da jetzt quer einzusteigen und zu sagen, wir zäumen das Pferd quasi von hinten auf und super, dass du heute da bist, danke fürs Kommen. Was aber auch heißt, dass das Thema M/ CFS bei dir tatsächlich Einzug in deine tägliche Arbeit gehalten hat in den letzten Jahren. Aber ME/CFS ist nicht wirklich eine Erfindung von Covid an sich. Also wie genau verhält sich das?

Michael Stingl

ME/CFS ist ein Teil von Long Covid. Es ist wichtig, dass man betont, dass Long Covid nicht äquivalent mit ME/CFS ist, aber dass ein nicht unwesentlicher Anteil jener, die über längere Zeit Covid haben, eben die Kriterien für ME/CFS erfüllen. 30, 40, 50 Prozent circa. Das ist nicht so ganz genau, aber es ist nicht unwesentlich. Aber und das ist eben auch wichtig, ME/CFS war auch schon vor Covid relevant. Es wurde halt einfach, obwohl es verhältnismäßig häufig war, war es trotzdem selten genug, dass man es ganz gut übersehen konnte, dass man ganz gut den Kopf in den Sand stecken konnte. Es wurde die letzten Jahrzehnte eher psychiatrisch interpretiert, was sich halt zunehmend als falsch herausstellt. Es ist aber letztendlich in der einen oder anderen Form seit 1969 von der WHO. Bereits als neurologische Erkrankung codiert.

Also es ist nichts ganz Neues. Es gibt gute Beschreibungen, es gab irgendwie so Ausbrüche in Krankenhäusern und ähnlichem, wo es ganz gute Beschreibungen damals schon gab, wo auch dieser Begriff myalgische Enzephalomyelitis herkommt, weil man in den 50er Jahren davon ausgegangen ist, dass es von einem Poliovirus ausgelöst wird. Das stimmt nicht, das ist ein Begriff. Also wir wissen es nicht, sagen wir mal so, aber es ist schon ganz klar, dass es mit einer Polymyelitis im eigentlichen Sinn nicht wirklich was zu tun hat. Der Begriff ist halt leider irgendwie hängen geblieben, was natürlich zu Problemen führt, weil gerade in der Neurologie dieser Begriff nicht besonders populär ist, aus verständlichen Gründen.

Matthias Farlik

Wenn wir schon über Begriffe reden, also ME/CFS steht ja in Wahrheit für myalgische Enzephalomyelitis, chronisches Fatigue Syndrom. Also ME/CFS ist definitiv, geht leichter von der Zunge, aber wie du schon sagst, Begriffsklärung. Offensichtlich haben auch Mediziner ein Problem mit dieser Namensgebung. Wieso genau, was ist das eigentliche Thema? Wo hängen sich viele auf? Und das hat natürlich auch Konsequenzen auf die Akzeptanz der Erkrankung als solches.

Michael Stingl

Naja, von neurologischer Seite ist klar, dass wenn man was als myalgische Encephalomyelitis bezeichnet, also eben als Entzündung des Gehirns und des Rückenmarks mit Muskelschmerzen, wenn man das irgendwie ausdeutschen mag, aber es ist keine Enzephalomyelitis, also es ist keine Entzündung des Gehirns, dann ist es klar, dass man das aus rein formalen Gründen nicht gut findet, diesen Begriff. Da kann man sich drüber aufregen, finde ich vollkommen akzeptabel und wir brauchen einen besseren Namen dafür. CFS, Chronic Fatigue Syndrome, ist aber genauso ein schlechter Begriff und da regt sich irgendwie keiner auf, außer den Betroffenen, Weil CFS ist ein Begriff, der in den 90er Jahren aufkam, wo die Diagnosekriterien für ME/CFS sehr erweitert worden sind, wo viele Leute die Kriterien erfüllt haben, die eigentlich nach heutiger Sicht auf die Erkrankung gar nicht ME/CFS haben, sondern eben chronische Fatigue, chronische Erschöpfung. Es wurde da bei diesen Diagnosekriterien ein extrem großer Fokus auf dieses relativ unspezifische Merkmal der Fatigue gelegt. Erschöpfung. Das haben viele, das ist komplett normales Ding, das gesunde Menschen haben, das Begleiterscheinung von vielen Erkrankungen ist und das definitiv jetzt nicht das ist, was ME/CFS ausmacht. Es kam dann irgendwann in den 2000ern wieder dieser Umkehrschwung, wo man es dann eher von der psychiatrischen Interpretation wieder begonnen hat, mehr als körperliche Erkrankung zu sehen, wo dann dieses Konstrukt ME/CFS geschaffen worden ist als Kombination von zwei nicht günstigen Namen. Ich denke mal von den Leuten, die sich heutzutage mit ME/CFS beschäftigen, keiner findet den Namen gut.

Es ist einfach eine Ansammlung von Buchstaben, die man verwendet, um das zu bezeichnen. Und wenn man sich jetzt wirklich zu sehr Namen aufhängen mag, ich nehme jetzt immer als Beispiel die Malaria, da glaubt kein Mensch mehr, dass das durch schlechte Luft verbreitet wird. Und trotzdem nimmt man es ernst und trotzdem bezeichnet man es noch so als unabhängig davon, wo man jetzt semantisch Erbsen zählen mag. Die Leute sind krank und brauchen gescheite medizinische Unterstützung und brauchen vor allem Forschung dazu.

Matthias Farlik

Das ist ein wichtiger Punkt. Also bevor man sich jetzt an irgendwelche Begrifflichkeiten aufhängt, sollte man sich vielleicht einmal auch mit den Patienten beschäftigen und die Symptome nicht anfangen zu negieren. Aber das ist genau der Punkt. Wir sehen ja auch seit der Pandemie vor allem auch einen starken Anstieg besagter Symptome. Zu denen kommen wir sicher noch gleich. Wir waren ja auch tatsächlich, Edith, schon einmal in der Dunkelkammer auch mit ME/CFS konfrontiert. Die Folge 110, glaube ich, war das damals, die du moderiert hast.

Evas Leben ist zerstört, hat sie damals geheißen. Der Titel alleine ist schon ziemlich heftig, aber finde ich passt sehr gut, denn genau das passiert, wenn du diese Folge noch mal Revue passieren lässt. Edith, was ist da bei dir hängen geblieben?

Edith Meinhart

Mir ist genauso gegangen. Ich bin eigentlich so wie der Herr Dr. Stingl in die Geschichte reingestolpert. Ich wusste überhaupt nichts, ich kannte nicht einmal die Buchstabenfolge. Ein Bekannter hat zu mir gesagt, seine Cousine liegt seit einem Jahr im Zimmer, ist zurückgegangen. Das war eine junge Frau, damals 27, die eine Ausbildung zur Tanzpädagogin gemacht hat, sich ins Leben stürzen wollte und dann so kraftlos geworden ist nach zwei Covid Erkrankungen, dass sie im Kinderzimmer im Elternhaus gelandet ist. Und er hat gesagt, ich kann gar nicht mit ihr sprechen, weil sie das von der Kraft nicht schafft.

Aber ihre Mutter und die Ärztin, die auch eine spezielle Ärztin war, die hat nämlich in Amerika eine Zusatzausbildung gemacht und ist damals schon mit SARS CoV1 in Berührung gekommen, wo es ähnliche postvirale Zustände schon gab. Aber alles war noch unerforscht. Der langen Rede kurzer Sinn, ich bin da hingefahren, eigentlich total offen und nicht wissend, was mich da erwartet und war richtig schockiert. Also wir mussten uns auf Zehenspitzen an dem Kinderzimmer vorbeischleichen. Die Eva konnte gar nicht mit mir reden. Wir haben dann in einem Zimmer den Podcast aufgenommen, haben versucht auch beim Tür aufmachen, zumachen, ganz leise zu sein. Die Eva war in diesem Kinderzimmer, wo noch die Kinderbuchstaben von früher drauf waren, ausgeschnittene Holzbuchstaben, Eva und die Bücherrücken mit Tüchern verhängt waren, weil sie gar nicht mehr geschafft hat, die Titel zu lesen und das zu verarbeiten.

Und ihre Mutter hatte ihre Generalerlaubnis zu erzählen, wie es ihr geht. Und ich war wirklich, also ich muss sagen, ich war wirklich schockiert über das, was den Alltag der Eva ausgemacht hat und immer noch macht. Ich habe nämlich jetzt vor kurzem für das Datum eine Nachfolgegeschichte gemacht und bei den Betroffenen nachgefragt, was sich geändert hat. Schockierenderweise gar nichts. Und das, was die Angehörigen sagen, was ihnen am meisten Entlastung verschafft, ist, und das ist das Traurigste an der Geschichte, keinen Kontakt mit Behörden und Ärzten. Und das ist so eine eine, wie soll ich sagen, das ist eigentlich so ein ungesehener Skandal, dass Menschen, die so dringend Hilfe bräuchten, Forschung bräuchten, Behandlung bräuchten, Aufmerksamkeit bräuchten, gar nicht die Kraft haben, sich die selbst zu verschaffen, sagen, am besten geht es uns, wenn niemand mehr was von uns will, weil uns niemand hilft.

Die Eva hat ein einziges Lebewesen, sie ist mittlerweile 28 dass sie erträgt. Also ihre Mutter kann am Tag drei Sätze mit ihr sprechen. Und das ist ein Kater, den hat sie zum 28. Geburtstag gekriegt, der heißt Emil, nach dem Buch von Erich Kästner, Emil und die Detektive, dass sie sehr mag. Und das ist das einzige Lebewesen, das sie berühren darf und das sie auch beruhigt. Und das ist eigentlich, also ich kann gar nicht sagen, was das alles macht. Also wir werden ja noch über die Behandlung und das, was im Körper passiert, aber es ist einfach herzzerreißend, wirklich, es ist herzzerreißend, wenn so ein junger, talentierter Mensch wie die Eva, die eigentlich ein Begriff war, ins Leben rauszugehen, ihre berufliche Karriere zu starten, so zurückgeworfen wird und dann auch zum Teil von Ärzten und Gutachtern auch noch verhöhnt und gequält wird.

Michael Nikbakhsh

Herr Dr. Stingl, wie sehr steht denn dieser Fall den Edith da beschrieben hat, jetzt stellvertretend für andere. Wie schwer sind diese Krankheitsverläufe? Wir haben eingangs gehört, rund 80.000 Menschen sollen davon betroffen sein. Ich würde jetzt mal annehmen, dass das abgestuft ist, sprich nicht allen Menschen, die mit ME/CFS kämpfen, gleich schlecht geht. Es wird wahrscheinlich von bis sein. Erzählen Sie mal.

Michael Stingl

Genau das ist, glaube ich, ein wichtiger Punkt, weil natürlich Fälle, wie denen Sie geschildert haben, die gibt es. Die macht auch einen relevanten Anteil aus von ME/CFS, diese wirklich schwer betroffenen Sevilla Mi, wie das oft bezeichnet wird, Leute, die im Zimmer liegen, im Abgedunkelten, wo Kommunikation nicht möglich ist, massive Reizempfindlichkeit und eben schon banalste Dinge dazu führen, dass sich der Zustand verschlechtern kann. Aber es gibt umgekehrt auch Leute auf diesem Spektrum von ME/CFS, die prinzipiell arbeitsfähig sind, die halt dann massive Abschnitte machen müssen, was Sozialleben angeht, was Alltagsaktivität angeht, wo meistens dann die Arbeit, die dann noch angepasst werden muss und in Stunden reduziert werden muss, der Inhalt des ganzen Lebens ist und daneben geht gar nichts. Und dazwischen gibt es halt Leute, die prinzipiell ein, zwei Mal die Woche das Haus verlassen können für kurze Spaziergänge, für Arzttermine, teilweise dann eben auch mit dieser typischen Verschlechterung, mit dieser Post Exertion Malaise reagieren, aber die sich um basale Belange des Alltags noch irgendwie selber kümmern können mit viel Unterstützung. Das ist eben dieses Spektrum. Da gibt es gerade im leichter betroffenen Bereich sicher auch viele, wo man gar nicht dran denkt, dass es ME/CFS ist. Es ist auch definitiv zu sagen, dass dieser Fall, der da geschildert worden ist, bei den wenigsten Leuten ist es so, dass es sofort nach der Infektion so schlimm wird.

Es gibt viele Leute, und das ist schon auch so ein Verlauf, den ich oft gesehen habe und wo es auch durchaus Studien gibt, die das auch zeigen. Es fängt bei vielen Leuten in einem leichteren Ausmaß an, es wird nicht erkannt, es erfolgt eine ständige Überbeanspruchung und es wird laufend schlechter, bis irgendwann einmal dieser massive Einbruch kommt, wo dann gar nichts mehr geht. Da gibt es zum Beispiel Studie aus Norwegen, die Diagnose ME/CFS korreliert haben mit Daten aus Krankenstandszahlungen, Einkommensdaten und so weiter, wo man sieht, dass schon Jahre vor der Diagnosestellung ME/CFS Krankenstände zunehmen, Einkommen sinkt. Also das ist schon so ein Prozess, der sich über viele Jahre zieht und dann irgendwann kommt für manche Leute dieser komplette Einbruch. Das ist halt auch der relevante Punkt. Es muss halt erkannt werden. Würde ich es rechtzeitig erkennen, bei jemandem, der noch leichter betroffen ist, die richtigen Schritte setzen, eben zu raten, Schonung und gewisse andere Sachen, die man natürlich machen kann, dann wäre es wahrscheinlich bei sehr vielen Leuten zu verhindern, dass es solche Ausmaße annimmt, wie eben diese Bettlägerigkeit im dunklen Zimmer.

Und das ist eben sicher auch was, wo man ansetzen muss, die Früherkennung und rechtzeitige Einleitung der Therapie und halt und das ist schon, also der Aspekt ist definitiv repräsentativ, dass es für Leute mit ME/CFS extrem schwierig ist, medizinische Betreuung zu bekommen und eben auch Sozialleistungen zu bekommen, weil diese Diagnose leider in vielen Bereichen nicht bekannt oder nicht akzeptiert ist.

Edith Meinhart

Darf ich vielleicht kurz danach nachhaken? Das war für mich nämlich auch so kontraintuitiv. Das unterscheidet ja diese Krankheit von allen anderen. Wenn man erschöpft ist, würde jeder sagen, fangen es langsam an zu gehen und sich ein bisschen zu fordern, weil man eigentlich dadurch zu Kräften kommt. Bei dieser Krankheit ist es umgekehrt. Die Leute waren ja auf Reha und sind danach gecrashed. Vielleicht könnten sie das erklären, weil das kriegt man fast nicht in den Kopf rein, weil es keine andere Krankheit gibt, wo das so ist.

Michael Stingl

Also das nicht in den Kopf reinkriegen ist ein guter Punkt, weil das kriegen weder die Betroffenen in den Kopf rein, weil das komplett gegenintuitiv ist. Das entspricht nicht dem, was die Leute normalerweise machen würden. Aber es ist natürlich auch für die Medizin gegenintuitiv, weil wir eigentlich immer der Meinung sind, dass Aktivität gut ist. Wie ich mit ME/CFS in Kontakt gekommen bin, war ich gerade in einer neurologischen Rehaklinik tätig und das Konzept dort ist Aktivierung, Aktivierung, Aktivierung. Und das bringt ja auch was, wenn jemand mit einer neurologischen Erkrankung Fatigue hat. Das ist ja häufige Begleiterscheinung. Multiple Sklerose, Parkinson, Schlaganfall.

Die Leute haben Fatigue, denen hilft Ausdauertraining, denen hilft Aktivierung. Bei ME/CFS ist es genau gegenteilig. Da gibt es dieses Problem der sogenannten Post Exertional Malaise wieder. Der nächste sperrige Begriff und auch über den Begriff wird diskutiert, nennen wir es ab jetzt PEM, weil dann ist es kürzer. Letztendlich bedeutet das, wenn man sich über einen gewissen, eben über die individuelle Leistungsgrenze und das ist unterschiedlich. Das kann für manche Leute sein, dass man eben einkaufen geht, für manche Leute ist es, dass man zähneputzen geht, aber wenn man über diesen individuellen Punkt drüberkommt, dann wird es schlechter. Und der zweite wichtige Aspekt ist, sie haben bei vielen Erkrankungen den Fakt, dass wenn man sich anstrengt, dass man sich nachher nicht so ganz fit fühlt.

Wenn ich als unfitter Mensch Sport mache, dann fühle ich mich nachher auch nicht so fit, aber ich raste mich aus und es geht wieder. Und das ist eben bei der Post Exertional Malaise, bei der PEM ganz anders. Das wird auf Ruhe nicht besser. Das dauert auch für mindestens 14 Stunden. Diese 14 Stunden kommen daher, dass man es in einer Studie verglichen hat mit Leuten, die Multiple Sklerose haben, die eben auch manchmal Fatigue äußern oder oft Fatigue äußern nach Aktivität, wo es aber im Verlauf von ein paar Stunden wieder besser wird. Und das diskriminiert ganz gut. PEM kann ein paar Stunden oder kann einen Tag dauern, PEM kann eine Woche dauern, PEM kann Monate dauern und PEM kann, und das ist das große Problem dabei, und das muss man auch in der Medizin bedenken, bei jeder diagnostischen und therapeutischen Maßnahme kann zu einer dauerhaften Verschlechterung führen, von der man sich auch nicht mehr erholt.

Und das macht ME/CFS einzigartig. Das macht die PEM einzigartig. Und dieser Prozess ist durchaus auch verstanden. Also es ist nicht so, dass das jetzt irgendwas ist, was sich irgendein verrückter Neurologe aus der Nase zieht. Da gibt Studien, die die Pathophysiologie von PEM durchaus erklären können. Wir haben noch nicht das perfekte Gesamtbild, wir haben noch nicht den perfekten Test für PEM.

Es ist aber messbar. Das muss man auch ganz klar betonen. Da steht sogar, es gibt die American College for Sports Medicine, das ist so quasi, die geben ein Buch heraus über Leistungsdiagnostik, das ist die Bibel der Leistungsdiagnostik und da steht jetzt ME/CFS auch drinnen, weil man kann es, würde man es wollen messen, man kann von zwei aneinanderfolgenden Tagen eine Ergometrie durchführen, also dieses Radlfahren wo die Leute Vollgas geben und man sieht bei Leuten, die ME/CFS haben, am zweiten Tag eine deutlich reduzierte Leistungsfähigkeit. Das haben Leute, die untrainiert sind, nicht. Die sind gleich oder besser sogar. Und das könnte man insofern schon messen. Aber das Problem ist, wenn man so was macht, dann kann man halt Leute auch durchaus dauerhaft verschlechtern.

Deswegen muss man sich das gut überlegen. Aber ich glaube, was wichtig zu betonen ist, PEM ist kein abstraktes Konzept. PEM ist in Studien messbar und wenn Leute typische Symptome von PEM berichten, dann tut man gut daran, ihnen das prinzipiell mal zu glauben und zu schauen, wie der Verlauf einfach ist, wenn man Überanstrengung vermeidet.

Matthias Farlik

Nur wenn du sagst berichten, dann hat das so den Beigeschmack, okay, das dauert nicht. Das ist jetzt wahrscheinlich nichts, was man in zwei, drei Monaten drei Minuten in einer schnellen Visite beim Arzt irgendwie sozusagen in einen Raster einordnen kann. Ist das eines der Probleme, dass man sich einfach Zeit nehmen muss für solche Patienten, um herauszufinden, was genau ist es eigentlich?

Michael Stingl

Jein. Also ich glaube, man muss einfach die richtige Detailfrage stellen, um einmal zu screenen, ob jemand PEM hat. Ich sehe das Problem, ich verstehe das Problem schon. Fatigue Erschöpfung ist ein relativ häufiges Symptom, mit dem Leute ärztlichen Kontakt suchen und es wird unter dem Begriff Fatigue sehr viel subsumiert. Das muss man ganz klar sagen. Ich glaube, man muss einfach diese Detailfrage stellen, wie geht es Ihnen, wenn Sie was gemacht haben? Und das kann schon hilfreich sein, weil wenn die Leute sagen, ich mach was und dann fühle ich mich für zwei Tage krank und muss im Bett liegen und bin extrem reizempfindlich, dann ist das keine normale Erschöpfung nach Aktivität, sondern dann ist das möglicherweise PEM.

Und solchen Leuten sollte man sagen OK, schauen Sie, wo Ihre Grenzen sind, schonen Sie sich, überaktivieren Sie sich nicht, machen Sie nicht das, was Sie normalerweise tun würden, sich zu pushen und berichten Sie mir dann in zwei, drei Wochen, wie es Ihnen geht. Und ich glaube, dass das eine relativ niederschwellige Sache wäre, gerade in frühen Phasen, das auch im niedergelassenen Bereich zu erkennen. Natürlich, wenn jemand Vollbild ME/CFS hat mit all diesen Symptomen, die damit einhergehen neben der PEM, dann wird die Anamnese schon ein bisschen komplexer, aber man darf es auch nicht so tun, nur weil wir keinen Biomarker haben, dass wir nichts diagnostizieren können. Wir haben in vielen Bereichen Medizin klinische Diagnosen, man denke an die Psychiatrie, man denke an die über 200 verschiedenen Kopfschmerzformen, die letztendlich auch rein klinisch diagnostiziert werden, weil die Leute ein bestimmtes klinisches Bild berichten. Also wir sollten auch dieses Instrument der Anamnese nicht komplett entwerten in dem Kontext.

Matthias Farlik

Okay, also mit anderen Worten, die Schlussfolgerung ist, man kann mit der richtigen Fragestellung durchaus in absehbarer Zeit zu einer Diagnose kommen. Das ist mal wichtig zu wissen.

Michael Stingl
Definitiv, aber das Problem ist dabei, man müsste halt irgendwo lernen und ich glaube, ich bin zufällig da reingestolpert über einen Patienten, der mir das sehr glaubhaft berichtet hat. Ich habe mich dann eingelesen, das war dann der nächste Schritt, weil es ist ja auch nicht so, dass es damals, als ich damit begonnen habe, keine Literatur dazu gegeben hätte. Sie war halt nur, also man hat sie halt suchen müssen. Es muss halt rein in die Ausbildung. Genauso wie jede Ärztin jeder Arzt einen Herzinfarkt erkennen muss, sollte jede Ärztin jeder Arzt PEM erkennen, weil es letztendlich, auch wenn ich jetzt Urolog wäre, wäre es nicht unwichtig zu wissen, dass PEM nach einer Operation den postoperativen Verlauf verzögern kann. Also ich denke, es ist schon ein sehr wichtiges Konzept, das in der Medizin bekannt sein sollte.

Michael Nikbakhsh
PEM, ME/CFS, ich hau das jetzt alles in einen Topf, um bei der Fatigue zu bleiben, wohl wissend, dass die Begrifflichkeit jetzt so unscharf ist. Das kann jeden treffen, quer durch alle Altersgruppen, quer durch alle sozialen Schichten. Es kann eine Covid Folge sein, muss aber nicht.

Michael Stingl

Genau. Also ich glaube, man darf auch nicht vergessen, dass die meisten Corona Infektionen nach wie vor problemlos abheilen. Also bei allem respektvoll von Long Covid und Covid Folgen. Es ist so wie bei den meisten. Und auch Covid steht ja nicht alleine da. Infekte können Folgen haben, das ist in dem Sinn nichts Neues. Auch diese Tatsache, dass Infekte neurologische Folgen haben können, Auftreten von Demenz, von Parkinson und so weiter beschleunigen können, das ist nichts Neues.Man hat jetzt einfach genauer hingeschaut.

Matthias Farlik

Epstein-Barr-Virus mit ME/CFS in Verbindung gebracht worden. Also es gibt durchaus auch interessante Kreuzparallelen.

Michael Stingl

Epstein-Barr ist ja, also ME/CFS ist nicht exklusiv postinfektiös, aber in 70 Prozent der Fälle postinfektiös. Und da war halt früher eben EBV eine häufige Ursache in dem Sinn, dass EBV einer von den wenigen Erregern ist, wo man Diagnostik macht, wenn man den Verdacht hat. Oft ist ein unspezifischer Infekt, wo man sich denkt, ich habe mal einen Schnupfen gehabt oder einen schweren grippalen Infekt, da wird ja kein Erreger getestet. Also die meisten Leute wissen nicht, was es ausgelöst hat.

Michael Nikbakhsh

Gibt es da jetzt? Sind Frauen mehr betroffen als Männer zum Beispiel oder umgekehrt schon.

Michael Stingl

Genau, also ME/CFS ist eine Erkrankung mit 3 bis 4 zu 1 mehr Frauen. Eher im jüngeren Erwachsenenalter. Es gibt auch eine sehr schöne Studie, die die Erstmanifestation von ME/CFS sich angeschaut hat. Man hat seinen ersten Gipfel mit 13, 14, 15, wo halt man dann zum ersten Mal sieht, ganz junge Kinder können theoretisch auch ME/CFS bekommen. Es ist seltener. Bei ganz jungen Kindern ist Bub zum Mädel mehr oder weniger gleich, aber ab dem Moment, wo die Pubertät einsetzt, beginnt dieser Frauenüberhang. Das war in der Studie schön zu sehen. Also man sieht schon sehr klar, da gibt es hormonelle Einflüsse, definitiv.

Es gibt dann einen zweiten Altersgipfel, der ist so zwischen 30 und 35 und dann wird es im Verlauf des Lebens immer seltener. Es kann theoretisch auch im höheren Lebensalter auftreten. Ich habe so ein bisschen den Verdacht, dass vielleicht Gerade wenn bei 70-80-jährigen multimorbiden Menschen vielleicht nicht so genau nachgefragt wird, sondern eh klar, dass der erschöpft ist, der ist alt, der ist krank. Aber letztendlich, also von dieser Studie zum Beispiel, ist es eher dann nichts mehr, was mit 70, 80 sehr häufig ist. Man kann schon sagen, im Kern erstmaliges Auftreten ist zwischen 15 und 40 im Normalfall und bei Frauen häufiger als bei Männern.

Edith Meinhart

Sie haben gesagt, Sie sind Neurologe, haben sich eingelesen, warum haben das die Kollegen nicht gemacht? Viele Betroffene berichten, gerade Neurologen behandeln Patient:innen sehr oft, als würden sie tachinieren, als würden sie irgendwelche Symptome erfinden oder sich nicht ausreichend zusammenreißen und aufstehen oder depressiv sein. Ist das auch sexistisch? Ist das mangelndes Interesse? Sie haben sich ja auch kundig gemacht.

Michael Stingl

Mein Patient X war recht überzeugend, sagen wir mal so. Und ich hatte die Zeit damals, mich einzulesen. Vielleicht ist es das. Ich mag ja da niemanden individuell einen Vorwurf machen, weil ich wusste es ja auch nicht. Ich habe nichts, ich war jetzt sicher nicht der gescheiteste Mensch auf der Welt, aber ich war fix auch nicht faul in meiner Ausbildung. Ich war echt bei vielen Fortbildungen und so weiter. Und es ist halt einfach nirgends Thema gewesen, leider.

Und ich muss das als Neurologe Mir tut das im Herzen weh. Die Neurologie hat es nach wie vor nicht am Radar, was ihre Kongresse betrifft. Es ist gerade der Deutsche Neurologie Kongress und ME/CFS findet man in einer Diskussionsveranstaltung, wo es um ein Statement geht, das die Deutsche Gesellschaft für Neurologie abgegeben hat zum Thema ME/CFS, ohne eigentlich irgendwie eine erkennbare akademische oder klinische Beschäftigung mit ME/CFS. Das ist schon spannend auch, aber das ist halt schade. Aber es ist nicht ein individuelles Thema, weil man muss klarerweise Ich hatte damals das Glück, dass ich die zeitlichen Ressourcen hatte, mich einzulesen und mich auch damit zu beschäftigen. Das ist sicher auch mein Luxus als Wahlarzt, dass ich einfach mehr Zeit habe, ist so. Das muss man ganz klar sagen.

Aber umso wichtiger wäre es, systematisch in eine Ausbildung, in eine Fortbildung reinzubekommen. Genauso wie ich lernen muss, wie ich Multiple Sklerose behandle, genauso wie ich lernen muss, wie ich Epilepsie behandle, muss ich halt auch lernen, wie ich ME/CFS erkenne und behandle. Und wenn ich dann nirgends die Möglichkeit dazu habe, wie soll ich es dann tun? Ich glaube, die Kritik richtet sich jetzt weniger. Also natürlich jetzt, wenn individuell eine schlechte Kommunikation entsteht und so weiter, das ist ganz klar zu kritisieren, aber es ist eher die Kritik, das Systemische, dass diese Ressourcen oder dieser Raum dafür, sich damit zu beschäftigen, nicht gegeben wird. Und da muss man ansetzen. Das ist nicht das Einzelversagen des Arztes oder der Ärztin, sondern das systemische Versagen der Führungsebene, dass es diese Ressourcen nicht gibt.

Michael Nikbakhsh

Heißt jetzt was? Stand der Wissenschaft ist, Der eine Teil der Betroffenen simuliert und der andere hat halt psychische Probleme, soll was einwerfen, Psychopharmaka und alles wird gut.

Michael Stingl

Naja, ich glaube, wir haben das Grundproblem dass wir sehr fokussiert sind auf Messwerte und wenn die Messwerte negativ sind, also man muss ganz ehrlich sagen, es haben ja auch psychosomatische Diagnosen, haben Diagnosekriterien und man in der Realität ist es oft so, dass die Diagnose einer somatoformen Störung ja nicht zwingend danach erfolgt, ob die Kriterien erfüllt sind, sondern eher so, ich habe in meiner Abklärung apparatv nichts gefunden, MR war unauffällig, Herzecho war unauffällig und so weiter. Und deswegen ist es halt eben, man findet keine organische Ursache so quasi, deswegen ist es psychosomatisch, wie die wissenschaftliche Literatur zu ME/CFS zeigt, findet man sehr wohl was, aber halt nicht mit den Messmethoden, die uns zur Verfügung stehen. Und ganz ehrlich, ich meine, wir sind es halt so gewohnt, dass wir so viel messen können, dass wir vergessen, dass das ja auch in der Medizingeschichte nicht immer so, Es hat ja immer Situationen gegeben, wo Krankheitsprozesse irgendwie, also gerade diese neurodegenerativen Erkrankungen, Multiple Sklerose, das war ja aus Autopsiebefunden irgendwie schon bekannt, was da passiert. Aber wir hatten halt das Problem, das klinisch leicht zu diagnostizieren, weil es die Messmethode nicht gegeben hat. Jetzt gibt es die MR und jetzt kann man Multiple Sklerose insofern leichter diagnostizieren. Diese relativ simple diagnostische Möglichkeit fehlt uns bei ME/CFS noch.

Aber man darf halt auch nicht vergessen, es ist die letzten 30-40 Jahre so gut wie nichts daran geforscht worden. Also wir werden da sicher hinkommen, weil diese Prozesse gibt es, aber wir haben halt noch einiges aufzuholen.

Edith Meinhart

Mein Eindruck ist, es gibt schon auch ein Problem mit den Patienten, die Patientin ernst nehmen. Es gibt Leute, die ich komme nicht aus dem Bett bzw. die Angehörigen sagen es, dann werden sie zu Begutachtungen vorgeladen in ein Kompetenzzentrum, die bringen zum Teil fünf Transportunfähigkeitsbescheinigungen und müssen trotzdem in einem Tonfall dann Telefonate führen, als wären sie die schlimmsten Simulanten. Und ja, also da gibt es auch ein Problem mit der Empathie oder mit dem, wie man generell mit Patienten umgeht, also mit dem Nachfragen. Und das ist jetzt gerade erst noch 2024/25 passiert, also nachdem es schon viele öffentliche Berichte, auch Debatten über ME/CSF gibt.

Wie ist das zu erklären?

Michael Stingl

Also Ich glaube, guter Punkt, man darf doch nichts beschönigen, weil trotz aller Kritik an der systematischen Problematik, dass die Ressourcen geschaffen werden müssen, natürlich gibt es viel zu viele von diesen Kontakten. Es gibt Gott sei Dank zunehmend Kolleginnen, die das Thema ernst nehmen, die sich damit beschäftigen, die auch Patientinnen entsprechend versuchen zu behandeln im Rahmen des Möglichen. Aber es wird halt nach wie vor sehr oft mit Unverständnis reagiert bei ME/CFS. Aus irgendeinem mir nicht erfindlichen Grund nehmen sich viele Kolleg:innen, obwohl das von mehreren Gesundheitsorganisationen klar definiert ist und klar benannt ist, sich das Recht herauszusagen, daran glaube ich nicht oder an unserer Abteilung wird an ME/CFS nicht geglaubt. Das ist, finde ich immer sehr spannend, weil ich meine, wer ist da jetzt.

Matthias Farlik

Ist keine Glaubensfrage mehr, keine Glaubensfrage.

Michael Stingl

Eigentlich ist es keine Glaubensfrage mehr. Und natürlich, das ist auch immer ein Problem jetzt in der Differentialdiagnostik. Ich bin immer der Meinung, es gehört bei ME/CFS. Also ich kann es klar diagnostizieren anhand von Diagnosekriterien, genauso wie es Diagnosekriterien für Depression gibt oder für Migräne. Ich kann mir den Verlauf anschauen, wie entwickelt sich das, wenn ich jetzt der Meinung bin, es ist ME/CFS und ich gebe bestimmte Empfehlungen, wie geht es den Leuten dann damit? Passt das zu dem, was ich annehme, was die Erkrankung ist? Ich kann natürlich oder ich muss andere Erkrankungen ausschließen, aber umgekehrt halt genauso, wenn ich in meiner Differentialdiagnostik und ich schick viele Leute zum Psychiater, Psychiaterin, weil das oft notwendig ist, weil die Leute psychisch betroffen sind und manchmal eben die Differentialdiagnostik auch wichtig ist.

Aber umgekehrt muss ich bei der Differentialdiagnostik ME/CFS natürlich auch am Radar haben. Wenn ich jetzt eine Differentialdiagnostik mache und ich sage, ich glaube nicht an ME/CFS oder ich kenne ME/CFS halt nicht, das ist immer ein Problem, wenn ich mal es nicht kenne, wie soll man es denn diagnostizieren? Dann wird es halt auch nicht gesehen. Und dann kommen genau solche Situationen raus, wo man sagt, sie haben nichts und sie wehren sich gegen die psychische Diagnose, sie wollen da nicht mitmachen. Es wird gerade in Gutachten auch immer wieder die Aggravation attestiert, dass Leute ihre Symptome übertreiben. Das ist halt auch natürlich, wenn man jetzt nicht weiß, dass diese Symptome bei ME/CFS fluktuieren können, dass die manchmal wirklich sehr drastisch sind. Natürlich kann man dann den Eindruck bekommen, dass das eine Aggravation ist.

Es werden dann auch Testverfahren verwendet, Fragebögen, die halt nicht quasi die sind nicht validiert für ME/CFS. Die nehmen dieses typische Merkmal von ME/CFS, dieser teilweise sehr drastischen Symptomfluktuation einfach nicht rein und deswegen steht dann drinnen Patient aggraviert und das ist natürlich schon ein Problem.

Edith Meinhart

Aber diese Glaubensfrage ist ja bizarr für mich als Journalistin. Ich bin keine Medizinerin, aber da könnte ich genauso gut Ich glaube nicht an den Tod, wenn ich es ihn abschaffen würde, dann würde ich sagen, jetzt ich glaube einfach nicht dran.

Matthias Farlik

Das ist genau der Punkt. Ich glaube, die wissenschaftliche Literatur gibt so viel mittlerweile schon her. Natürlich, ich gebe dir vollkommen recht, das ist bei weitem nicht genug und wir verstehen einfach noch nicht alles und viele mehr fragen noch immer offen als beantwortet. Aber dass es diese Erkrankung gibt, ich glaube, dass ist wissenschaftlicher Konsens mittlerweile oder sollte es zumindest sein.

Michael Nikbakhsh

Ja, ich kann dem noch was ganz Praktisches entgegensetzen. Ich kann da noch was Praktisches dazu tun, möchte vorrausschicken. Jetzt habe ich fast ein schlechtes Gewissen, dass wir Michael Stingl hier im Studio anhaben, während bei ihm die Patientenschlange stehen. Wenn man Ihnen ein Mail schreibt, bekommt man nämlich eine Antwort, eine standardisierte Antwort zurück und die lautet Ich aktuell erreicht mich eine tägliche Anzahl von Zuschriften, die nicht bewältigbar ist. Ich muss deshalb leider die Beantwortung triagieren. Wichtig: Ersttermine für ME/CFS und Long Covid können aktuell nicht vergeben werden. Also ich nehme da jetzt mit, dass bei Ihnen tatsächlich viel Andrang in der Praxis herrscht und ganz offensichtlich nicht viel Angebot am Markt vorhanden ist.

Es scheint nicht viele Anlaufstellen zu geben. Sie sind ein Beispiel.

Michael Stingl

Ja, also die Anlaufstellen existieren schlicht nicht und ich bin da in dieses Thema zunehmend reingewachsen und das ist mittlerweile eigentlich fast exklusiv das, mit dem ich mich beschäftige. Ich kann keine Neuvorstellungen mehr annehmen, weil die Nachbetreuung einfach so aufwendig ist, weil da geht es nicht um einen einmaligen Termin, wo man Aha, Sie haben ein Karpaltunnelsyndrom und so weiter, sondern das ist ja wirklich aufwendig. Und das Zweite ist, dass extrem viele Mails kommen, weil die Leute klarerweise wen sollen sie fragen? Sie fragen halt mich. Und es wird ja auch oft dann gesagt, fragen Sie den behandelnden Neurologen so auf die Art. Also egal, um was es geht. Also wenn man dann einmal so in der Situation ist, dass man neun Stunden am Tag in der Ordi sitzt und dann zusätzlich noch 80 Mails kriegt, die teilweise einen relativ komplexen Inhalt haben, wo es nicht einfach so Ja/Nein Antwort ist, dann klar.

Irgendwann muss man sagen, sorry Leute, es tut mir wirklich leid, ich würde das gerne noch anbieten, aber irgendwo reicht halt auch die Kapazität nicht mehr. Deswegen sudere ich auch so viel rum, dass es diese Anlaufstellen braucht. Gerade jetzt vor kurz vor zwei, drei Tagen hat eine ÖGK Vertreterin gesagt, wir müssen bei ME/CFS Anlaufstellen schaffen, dass die Privatmedizin da nicht Geld scheffelt. Ich meine, das ist halt immer das, was man hört. Man ist der Wahlarzt, der Geldschäffer, der damit Geld verdient und so weiter. Wer von uns verdient nicht Geld? Wir machen nichts für lau, Aber dann schafft es bitte diese Anlaufstellen.

Da brauchen solche Leute wie ich nicht ständig rumsudern.

Michael Nikbakhsh

Sie sind ausgebildeter Neurologe und haben sich mit der Thematik begonnen zu beschäftigen. Ich kann das aber auch als Allgemeinmediziner machen, mich damit beschäftigen und hier Expertise gewinnen. Muss kein Neurologe sein.

Michael Stingl

Ja, unbedingt. Ich denke, es ist ein multidisziplinäres Thema. Es ist in der Neurologie codiert, weil es sehr vordergründige neurologische Symptome gilt. Die Leute haben eben kognitive Beeinträchtigungen, die Leute haben sehr oft Fehlfunktionen vom vegetativen Nervensystem, also quasi vom Betriebssystem des Körpers. Das ist häufig bei ME/CFS, haben oft Schmerzen, was ja letztendlich auch zum Teil der Neurologie zugehörig ist, haben Reizempfindlichkeit und so weiter. Aber es ist nicht exklusiv ein neurologisches Thema. Und es ist natürlich auch die große Frage, die auch die Neurologieberechtigt. Ist es eigentlich von der Pathophysiologie im Kern ein neurologisches Thema oder ist es halt einfach ein anderes Problem, das dann halt neurologische Folgen nach sich zieht?

Neurologische Symptome bei systemischen Erkrankungen gibt es ja, Das ist natürlich eine berechtigte Frage, aber generell ja natürlich Allgemeinmedizin, Innere Medizin. Ich glaube, da gibt es viele Bereiche Immunologie, die sehr relevant sind in der Betreuung von ME/CFS.

Edith Meinhart

Ich glaube, zu den ebenso überlaufenen Praxen gehört ja eine Immunologin. Wie viele Expertinnen gibt es jetzt überhaupt und gibt es schon eine Behandlung? Wie viel Anlaufstellen? Anlaufstellen gibt es gar nicht und schon gar nicht auf Krankenkasse. Aber wie viele Leute wie Sie gibt es in Österreich?

Michael Stingl

Zu wenig

Matthias Farlik
Eine Handvoll wahrscheinlich, oder?

Michael Stingl

Zwei Handvoll.

Matthias Farlik

Zwei Handvoll.

Michael Stingl

2 Handvoll. Also es gibt genug. Und man muss das ganz ehrlich sagen, man sieht bei diesen Fortbildungen, die es zunehmend gibt, und auch da muss man jetzt auch explizit die Ärztekammer Wien zum Beispiel loben, die das jetzt regelmäßig angeboten hat, Fortbildungen zu ME/CFS, das Interesse ist groß. Wir sind halt echt bei diesem Punkt. Wir brauchen erst Anlaufstellen, wo man das auch... Spezialambulanzen sind ja nicht nur ein Ort der Patientinnenbetreuung, sondern die sind auch ein Ort der Lehre. Man kann jetzt nicht von einem Allgemeinmediziner, von einer allgemeinen Medizinerin erwarten, dass in dem ganzen Arbeitsaufwand, wo 60 Leute mit verschiedensten Problemen kommen und einer davon hat ME/CFS, dass ich da lernen kann, wie ich jetzt ME/CFS gescheit manage.

Das ist unmöglich. Das ist unlogisch. Und wir haben ja auch für andere Erkrankungen Spezialambulanzen. Man braucht solche Anlaufstellen auch als Ort der Lehre, dass Leute systematisch lernen können, wie man ME/CFS anamnestisch erhebt, wie man die Diagnostik macht und wie man es behandelt. Und wenn ich sowas dann eine Zeit lang mache, dann bin ich kompetent und.

Matthias Farlik

Habe dann auch die Zahlen, die an mir rechtfertigen, zu sagen, okay, da braucht es wirklich was, weil es ist jetzt schwarz auf weiß und so viele Leute sind erkrankt und ich muss was tun. Offensichtlich.

Michael Stingl

Genau deswegen ist diese ganze Diskussion, wir brauchen das eh nicht. Und ich meine, der Herr Hacker hat es ja vor kurzem angesprochen, dass es da in der Fachwelt Leute gibt, die sagen, wir brauchen keine Anlaufstellen, wo ich mich immer frage, diese Fachwelt, die da genannt wird. Ich meine, die Fachwelt der Leute, die sich mit ME/CFS beschäftigen in Österreich. Ist klein. Ich habe das Gefühl, ich kenne die meisten Keiner von denen ist der Meinung, wir brauchen das nicht. Das heißt, wir müssen schon bewusst machen, da reden Leute mit in der Diskussion, die offensichtlich keine wirkliche Beschäftigung mit ME/CFS haben. Und jetzt ganz ehrlich, ich meine, ich bin ein Neurolog, Epilepsie nur als Beispiel, ist ein Teil der Neurologie.

Ich kenne mich mit Epilepsie nicht aus. Ich habe nie diese Erfahrung damit gesammelt, wo ich sage, ich kann das behandeln. Das sage ich den Leuten auch, wenn jemand anruft, ich hätte gerne einen Termin wegen Epilepsie, sage ich, gehen bitte wohin, wo sich jemand besser auskennt. Und ich tue mich vor allem nicht zu irgendwelchen Diskussionen bei Epilepsie zu Wort melden. Umgekehrt, bei ME/CFS wird das akzeptiert, dass jemand, der vielleicht Professor ist, mit einer hohen, hohen Spezialisierung, einer großartigen Expertise in einem anderen Teilbereich jetzt der Neurologie oder der inneren Medizin oder was auch immer, aber eben keiner erkennbaren Beschäftigung mit ME/CFS sagt. Das braucht man nicht. Und ich glaube, das sollte schon mal hinterfragt werden, auch von politischer Seite.

Diese Leute, die sagen, wir brauchen das nicht. Diese Leute, die sagen, ME/CFS ist ein Blödsinn, beschäftigen sich die überhaupt damit? Können die zeigen, dass sie Leute mit ME/CFS behandeln können die zeigen, dass sie dazu publizieren. Und wenn die Frage mit Nein zu beantworten ist, dann muss ich ganz ehrlich sagen, wenn man es noch primitiver runterbrechen mag, wenn der Wasserhahn tropft, fragen sie auch nicht den Tischler, egal wie gut sein mag. Wir haben in der Medizin einfach gewisse Silos und Leute können in den Silos großartig sein, aber eben halt nicht in anderen. Es ist ja komplett unmöglich, auch rein von der Logik. Ich bin so in diesem Thema drinnen, ich lese viel nach, auch ich bin am Stand der Literatur, aber das beschäftigt mich so dermaßen, dass ich für andere neurologische Themen deutlich weniger Zeit habe.

Wie soll es umgekehrt gehen? Wie soll jemand, der auf Epilepsie, auf Parkinson, auf Multiple Sklerose oder Kardiomyopathie oder was auch immer, egal welcher Bereich der Medizin hochspezialisiert ist, da die Betroffenen sieht, da die Literatur im Auge hat, da Forschung auch noch einen Überblick haben über so ein breites Feld der Literatur wie ME/CFS? Und ich glaube, da muss man sich schon bewusst machen, es gibt ein österreichisches Referenzzentrum für ME/CFS, das wurde EU-Weit ausgeschrieben, entsprechend der Expertise zu ME/CFS und posterguten Infektionssyndromen. Das wurde besetzt mit Prof. Hoffmann, mit Professor Untersmayer, die diese Expertise zur ME/CFS nachgewiesenerweise haben. Und jetzt hört man aus der Diskussion, dass manche Stakeholder dem nicht vertrauen, was die liefern, wo ich mich frage, wo ist die Qualifikation der Stakeholder? Wenn man dann sieht, zum Beispiel diese journalistisch aufbereiteten Problematiken bei der PVA. Diese Zahlen, die man aus der Anfragebeantwortung rausliest an die Gesundheitsministerin, wo eben rauskommt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass man mit ME/CFS Diagnose, sogar wenn sie von der PVA im Gutachten nicht umgewandelt wird in eine psychosomatische Diagnose, dass die Wahrscheinlichkeit bei 30-35 Prozent liegt, dass man Reha Geld kriegt, wenn man sieht, dass die Chance, dass man mit der Diagnose ME-CFS vor Gericht recht bekommt bezüglich Rehgeld noch geringer ist. Man muss sich halt schon fragen, wo ist die Qualifikation dahinter, weil in der Ausbildung gelernt hat das niemand. Es gibt nach wie vor zu wenig Leute, die sich damit beschäftigen. Und das führt halt wieder zurück zu diesem Punkt, Wir brauchen diese spezialisierten Zentren, wir müssen realistisch sein, das kann man nicht über Nacht aus dem Boden stampfen, dazu fehlt einfach noch die Qualifikation.

Aber wir müssen irgendwo einen Rahmen schaffen, wo die Qualifikation entstehen kann. Und dann wird ME/CFS genauso wie andere Erkrankungen vielleicht mühsam sein, in manchen Fällen manchmal schwer zu behandeln sein, manchmal drastische Verläufe haben, aber zumindest was sein, was man wesentlich besser behandeln kann.

Michael Nikbakhsh

Ich habe vorher gesagt, wird da nicht Ursache mit Wirkung verwechselt? Ich frage jetzt noch, es muss doch für Fachleute erkennbar sein, ob jemand psychische Probleme hat und sich deshalb in ein abgedunkeltes Zimmer legt und niemanden mehr sehen will oder ob jemand so erschöpft ist, deshalb in dem Zimmer liegt und natürlich dann psychische Probleme bekommt. Das ist ja nicht wahnsinnig lustig, wenn man von Fatigue geplagt wird. Ich halte es für einen entscheidenden Unterschied.

Michael Stingl

Es ist halt wieder dieses Problem der Differentialdiagnostik unter Einbeziehungnahme von ME/CFS oder nicht. Ich kann nur sagen, was diese Fälle, die im dunklen Zimmer liegen, betrifft. Ich kenne genug Betroffene, denen es so geht, die auch psychiatrisch gesehen wurden, wo die ganz klare psychiatrische Meinung ist, ja, das taugt den Leuten nicht, das belastet die Leute, aber psychiatrische Ursachen erklären das nicht. Und das waren halt aber eben auch Diagnosen von Psychiater:innen, die halt auch ME/CFS am Radar haben.

Ich muss ganz ehrlich sagen, in der Psychiatrie und auch Psychotherapie, Psychologie bemerkt man das echt sehr, wie der Fokus sich da durchaus wandelt bei vielen Leuten, weil einfach diese Konfrontation mit dem Thema durch Covid größer wurde und man einfach dann konfrontiert ist mit Betroffenen, die einem zugewiesen werden als psychosomatisch und man schaut die an und denkt dann sich, wo ist mein Auftrag? Also ich glaube schon, dass es differenzierbar ist. Und letztendlich, es gibt ja auch genug Fortbildungen zu dem Thema mittlerweile, wo eben auch von Leuten, die aus der Psychiatrie kommen, die aus der Psychologie kommen, ganz klar differenziert wird, wie man es einfach klinisch auseinanderhalten kann, ob was eine Depression ist oder ME/CFS. Es ist echt nicht so, dass man das nicht dann am Esstisch irgendwie ein bisschen rausdröseln könnte.

Edith Meinhart

Es gibt ja mittlerweile Selbsthilfegruppen, die sich in WhatsApp-Chats zusammenschließen und versuchen unter der Hand selbst Tipps weiterzugeben, was hilft ihnen? Sie experimentieren mit Nahrungsmittelergänzungen oder mit irgendwelchen Medikamenten. Niemandem scheint das Gleiche zu helfen. Aber es ist auch Ausdruck der Verzweiflung am Gesundheitssystem, dass die Leute sich einfach versuchen, selbst irgendwie zu helfen.

Michael Stingl

Definitiv. Ja. Wir haben keine exklusiv wirksame Therapie. Also erstens einmal, ich bin prinzipiell der Meinung von dem, was ich erlebt habe bis jetzt, von dem, was die wissenschaftliche Literatur hergibt, dass ich zumindest, sagen wir so, Meinung oder Hoffnung, dass es was ist, was theoretisch reversibel ist oder zumindest deutlich besser zu machen wäre, wenn man die richtige Therapie hätte. Das muss man ganz klar sagen. Und ich bin auch der Meinung von meinem klinischen Eindruck, dass ME/CFS an sich eine heterogene Sache ist. Und ich wäre nicht überrascht, wenn man in fünf oder zehn oder 15 Jahren nicht mehr von ME/CFS spricht. Hoffentlich wird man nicht mehr von ME/CFS sprechen, weil der Name ja wie gesagt nicht optimal ist, sondern dass das möglicherweise drei oder vier oder fünf verschiedene Erkrankungen sind, die halt geeint sind durch diese gemeinsame Endstrecke der PEM, aber eben möglicherweise andere zugrundeliegende Ursachen haben.

Wir sehen im Gesamtpool der Leute mit ME/CFS durchaus Heterogenität. Es gibt Leute, wo es Hinweise gibt, dass es Virusreaktivierung gibt, dass es Autoimmunitätsprozesse gibt, dass es Probleme der kleinen Gefäße gibt. Das schließt sich alles gegenseitig nicht aus. Aber es ist nicht so, dass eine Gruppe alles hat oder dass ein gefundenes Problem für alle erklärend wäre. Und das ist halt sicher auch eine Aufgabe der Wissenschaft. Und eben auch die Professor Untersmeier macht ja solche. Da gab es zum Beispiel eine Studie, wo einfach ganz simpel differenziert worden ist, nach der haben die Leute mit ME/CFS einen Immundefekt oder nicht. Und man sieht dann, wenn man das einfach nach dieser eine Frage stratifiziert, also auseinanderdröselt, sieht man, dass die Leute unterschiedliche Messwerte haben bei bestimmten Parametern, die man messen kann, was die Darmbarriere oder das Immunsystem betrifft.

Und anhand von solchen Parametern müsste man das wesentlich besser differenzieren. Und dann würde man hoffentlich, wenn auch nicht diesen einen Biomarker für ME/CFS dann doch Biomarker bekommen, die uns OK, Gruppe A profitiert von Therapie A, Gruppe B profitiert von Therapie B und so weiter. Da muss man halt hinkommen. Aber ich glaube nicht, dass es unmöglich ist, das zu lösen. Momentan haben wir das noch nicht, leider. Das führt halt zu einem wilden Herumexperimentieren. Und das ist halt auch wieder so eine Sache, wo ich mir denke, das sollte halt im Idealerweise, auch wenn man voll zur Kenntnis nimmt, dass diese Therapien nicht evidenzbasiert sind, dass es einfach hypothetische Hintergründe hat, dass es Off Label Therapien sind, also Therapien von Medikamenten, die zugelassen sind, aber eben keine Studien dahinter sind, die das wirklich stützen.

Das muss halt ärztlich begleitet sein. Und mein Grundsatz da ist, es sollten Therapien sein, die ein vernünftiges Nebenwirkungsprofil haben. Ich verschreibe nichts, was gefährlich ist per se. Ich sage den Leuten auch immer, wenn sie es nicht vertragen, setzen sie es bitte ab. Es sollten Dinge sein, wo es zumindest irgendeine Hypothese dazu gibt oder Fallserien oder sowas, das ich irgendwie begründen kann. Und es sollte billig sein, weil die Leute geben so dermaßen viel Geld aus in diesem Brachfeld der Therapie in diesem Brachfeld der Versorgung. Die kommen mit dicken Aktenordnern von Befunden, die sie hunderte tausende Euros gekostet haben. Die haben Therapien ausprobiert, die sie hunderte tausende Euros gekostet haben und es hat nichts was gebracht.

Matthias Farlik
Oder sogar die Krankenkassen auch entsprechend natürlich auch Geld in die Hand nehmen. Nur für. Also ich glaube, wenn man Diagnosen, die dann nicht stimmen.

Michael Stingl

Wenn man sich diese dicken Befundordner anschaut, es ist nicht so, dass eine Diagnostik einmal gemacht wird und nie wieder. Sie suchen verschiedene Ärztinnen auf und kriegen unterschiedliche Diagnosen. Genau. Und machen teilweise die gleiche Diagnostik mehrfach. Das kostet ja auch, anstatt dass es einmal gescheit gemacht wird. Also ich denke schon, dass man schon jetzt mit dem, was wir zur Verfügung haben, einiges bewirken kann. Ich kenne ja Gott sei Dank Leute, denen signifikant, ich hätte den Hut drauf gehaut, wenn das nicht so wäre, aber es gibt Leute, denen es signifikant besser geht. Ich kenne auch, gerade wenn man es rechtzeitig abfangt, Leute, die sich wirklich sehr, sehr gut davon erholt haben, die mehr oder weniger wieder gesund sind. Es ist noch die Ausnahme. Es ist nicht die Schuld von den Leuten, wo es nicht besser wird. Die sind nicht selber dran schuld. Wir sind als Medizin zu blöd, um ihnen da weiterzuhelfen.

Aber es ist prinzipiell möglich. Und ich denke, wir sollten das schon auch in diese Richtung auch mal framen. Wir könnten jetzt schon viel tun, aber dazu muss es halt die richtigen Strukturen geben. Und das ist das, was gefordert werden muss. Diese vorgeschobene Hilflosigkeit. Wir wissen zu wenig und deswegen können wir nichts machen. Hätten wir diese Attitüde bei and gehabt, Ich meine Muskelerkrankungen, wir haben seit Jahrzehnten Muskelambulanzen, Muskelspezialisten, hätte es das nicht gegeben, hätten wir jetzt keine Gentherapie für bestimmte Formen von genetischer Muskelerkrankung, weil man einfach gesagt hat, wir können da eh nichts tun. Dieses hilflos auf den Rücken legen und sagen, wir kennen uns zu wenig aus. Ich finde es ehrlich gesagt ein bisschen fragwürdig.

Matthias Farlik

Vor allem trifft es ja eine gewisse signifikante Gruppe von Menschen. Wir können ja nicht einfach sagen, wir lassen die jetzt links liegen, buchstäblich und in ihren Zimmern notfalls auch in irgendeiner Form dahinvegetieren. Das sind ja Menschen, die auch, ich sage jetzt mal, der Großteil wird nicht einen Arbeitsverweigerer Modus haben, sondern wird ja auch ein produktiver Teil der Gesellschaft sein wollen weiterhin auch und am Arbeitsleben teilnehmen wollen. Welche Gesellschaft kann es sich leisten, Zehntausende Menschen da einfach zu vergessen? Das ist ja furchtbar.

Michael Stingl

Ich finde das mit der Arbeitsfähigkeit so oder so auch ein spannendes Thema, weil es gibt ja Gott sei Dank in diesem großen Spektrum von ME/CFS Leute, die wären prinzipiell arbeitsfähig. Aber diese Arbeitsfähigkeit hängt halt am Ende des Tages auch ein bisschen davon ab, ob es Rahmenbedingungen gibt, dass sie diese Arbeitsfähigkeit umsetzen können. Man muss da einfach auch ganz klar sagen, das ist dann keine normale reguläre Arbeitsfähigkeit. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass Leute mit ME/CFS sogar wenn sie arbeitsfähig wären, mehr Pausen brauchen, dass diese Pausen sich nicht nach irgendwelchen Vorgaben von außen richten, sondern nach dem, wie es den Leuten geht, dass man natürlich auch ermöglichen müsste und das ist natürlich branchenabhängig, dass es ein Recht auf Homeoffice gibt. Ich kenne genug Leute, die prinzipiell arbeitsfähig wären, wo dann der Arbeitgeber Nein, Homeoffice machen wir nicht, das gibt es bei uns nicht. Dann hat man halt diese Tatsache, Man hat zusätzlich zur Belastung durch die Arbeit, durch die Belastung durch den Anfahrtsweg. Und es gibt echt Leute, die sagen, wenn sie im Homeoffice arbeiten, geht es, aber wenn sie dorthin fahren müssen, sind sie streng streichfähig nach und liegen zwei Tage.

Matthias Farlik

Weil sie alleine mit dem Kontakt der Öffentlichkeit in öffentlichen Verkehrsmitteln oder wie?

Michael Stingl

Anstrengung beim Hinfahren, Reizüberflutung im Kontext der Arbeit, wenn man das schlechtere Möglichkeit pausenindividuell zu machen. Und das ist halt irgendwie blöd. Da bräuchte man auch rechtliche Rahmenbedingungen, weil man dann oft auch hört, der Arbeitgeber, obwohl ich da Teste schreibe, wo ich das ganz genau argumentiere, der Arbeitgeber sagt, es gibt keinen Rechtsanspruch drauf und deswegen machen wir es nicht. Würde es einen Rechtsanspruch geben bei bestimmten Diagnosen, wer weiß. Und das Zweite ist natürlich auch, wenn man sich überlegt, welche Wege diese Leute dann bestreiten müssen, wenn sie arbeitsunfähig sind oder nicht arbeiten können, wie mühselig dieser Prozess dann ist, durch diese ganzen Gutachten zu gehen und dann einen ablehnenden Bescheid zu bekommen und das dann vielleicht einzuklagen, gerade mit einer Erkrankung wie ME/CFS, das macht echt keiner zu Spaß. Und ich glaube, ich kann in die Leute nicht reinschauen, aber so komplett irgendwie.

Matthias Farlik

Pauschal zu unterstellen...

Michael Stingl

Pauschal zu unterstellen, dass sie es nicht wollen. Ich glaube, da macht man es sich dann schon sehr leicht, wenn die Generalannahme von jemandem ist, dass die Leute das System schießen wollen. Ich als Arzt tu mir schwer, mir das vorzustellen, weil mein Erleben in der Betreuung ist ein Menschen ein komplett anderes ist und ich ja letztendlich dann auch diese massivste Verzweiflung teilweise sehe, wenn jemand wieder durch diese Gutachten durchgegangen ist, dann sind die Termine danach meistens das Auffangen der Verzweiflung, die entstanden ist, weil ihnen wieder gesagt worden ist, sie sind eh arbeitsfähig und in Wirklichkeit sind es nach dem Gutachten drei Tage gelegen. Aber das sieht halt keiner. Das sieht keiner. Es wird nie gefragt, wie geht es ihnen nachher?

Michael Nikbakhsh

Inwieweit wird denn da der soziale Kontext erhoben? Also ich gehe mal davon aus, dass es auch einen entscheidenden Unterschied macht, ob jetzt zum Beispiel eine Führungskraft aus dem Erwerbsleben gerissen wird oder jemand, der in der Langzeitarbeitslosigkeit steckt und ohnehin keine Perspektive sieht.

Michael Stingl

Naja, ich meine, diese Sozialamnese sollte, wenn man schon sich immer auf das biopsychosoziale Modell stützt, was passiert, wobei halt leider Bio und Sozial oft ein bisschen ausgelassen werden, sondern alles mit der Psyche erklärt werden will. Natürlich sollte man das machen. Aber wie gesagt, ich meine, ich kann nur sagen, mein Eindruck aus der Klinik ist, dass das meistens Leute sind, die massiv leistungsbereit sind, die bereit sind, sich zu pushen und wo genau diese Tatsache, und auch das kann man natürlich psychosomatisch versuchen zu erklären. Es gibt für alles ein psychosomatisches Erklärungsmodell, aber dass natürlich genau diese Leute sich schwer tun, diese Grenzen zu akzeptieren. Da gibt es ein sehr bemerkenswertes Interview mit einer Olympiasportlerin, einer Rudererin aus England, die sich mit Covid infiziert hat während des Trainings für Tokio und die dann gesagt hat, das Training für Olympia ist ihr wesentlich leichter gefallen als das Pacing. Also Pacing ist dieses Anpassen der Aktivität an die Leistungsgrenzen. Diese Leute müssen sich zwingen und es ist für viele Leute irrsinnig schwierig, diese Akzeptanz zu entwickeln, dass sie einfach wirklich diese Pausen brauchen.

Und das ist natürlich auch hinderlich, weil nämlich letztendlich zu akzeptieren, dass man eben diese Pausen braucht, dass diese Leistungsgrenze so weit unten ist, bedeutet auch zu akzeptieren, dass für manche Leute so gut wie gar nichts geht. Also auch keine Sozialkontakte, keine Arbeit, die für viele Leute auch sinnstiftend ist. Ganz ehrlich, und das liest man auch aus genug Studien mittlerweile, Psychische Belastung entsteht dann genau dadurch, durch diese Tatsache, dass es nicht ernst genommen wird, dass es abgesprochen wird, dass sie da wirklich leiden, dass es eben fehlinterpretiert wird, dass Therapieansätze dann gewählt werden, die teilweise schädlich sind und aber schon auch, dass man komplett aus dem Leben rausgeschossen wird, dass es eben keinen Platz mehr gibt für Sozialkontakte, dass es keinen Platz mehr gibt für Arbeit. Und viele Leute wollen einfach arbeiten, weil die Arbeit für sie ein wichtiger Bestandteil ist. Diese Aspekte muss man auch sehen. Also ja, es ist überhaupt nicht verwunderlich, dass es auch bei ME/CFS, so wie bei anderen chronischen Erkrankungen, zu psychischen Problemen kommt. Und gleichzeitig muss man schon noch sagen, und auch das wurde mir in vielen psychiatrischen Befunden, die ich gesehen habe, bestätigt, dass Leute mit ME/CFS überraschend resilient sind, was das angeht.

Edith Meinhart

Herr Dr. Stingl, Sie haben jetzt viele Patientinnen gesehen, haben wahrscheinlich auch, Sie haben gesagt, die Literatur mitverfolgt, gewisse Thesen entwickelt. Ich weiß, man weiß noch nicht viel, aber die Betroffenen selbst haben ja zumindest vor einem Jahr noch sehr große Hoffnungen in die Forschung gesetzt. Mittlerweile sind sie sehr enttäuscht, weil da viel zu wenig Geld reinfliesst und viel zu wenig passiert. Aber haben Sie erstens einmal eine Idee, wo es in der Forschung weitergehen könnte? Und rausgehört habe ich ein Bisschen, Sie sind nicht hoffnungslos, Sie glauben, es wird etwas geben. Können Sie das noch erklären? Was kann die Forschung, wenn sie ausreichend dotiert wird, möglicherweise bewirken?

Michael Stingl

Ich glaube, das, was man in den letzten Jahren doch bemerkt hat, ist, dass irgendwie schon klar wurde, dass man einfach besser eben diese Stratifizierung betreiben muss, dass man einfach zur Kenntnis nimmt, ME/CFS ist heterogen und wirft man alle in einen Topf, dann kommt dabei Kraut und Rüben raus. Es ist erstens einmal ein ganz wichtiger Punkt zu fragen, was viele Messwerte angeht bei ME/CFS. Wann wurde das abgenommen? Erstens einmal Krankheitsphase. Ist das jemand, der zwei drei Jahre krank ist oder ist das jemand, der zehn Jahre krank ist? Das macht einen Unterschied, aber das ist Nicht nur bei ME/CFS so. Die 2. Wichtige Frage, die auch viel zu wenig berücksichtigt worden ist, sind diese Messwerte bestimmt worden in Phasen, wo die Leute stabil waren oder in den Phasen der PEM, weil genau da sitzt der Hund, da ist es anders. Es gibt sehr wenige Studien, die jetzt letztendlich wirklich PEM provozieren, weil PEM zu provozieren bedeutet halt in Kauf zu nehmen, dass Leute sich möglicherweise potenziell verschlechtern.

Matthias Farlik
Weil es auch progressiv ist tatsächlich.

Michael Stingl

Weil es progressiv sein kann durch diese Überanstrengungen. Und halt natürlich schon auch diese Stratifizierung eben. Also zum Beispiel diese Autoimmunitätsprozesse sind ein Beispiel. Wenn ich jetzt davon ausgehe, dass 30-40 Prozent der Leute eine autoimmune Begleitkomponente oder Ursache für ME/CFS haben. Und diese 30-40 Prozent sind in der gleichen Studie drinnen wie Leute, die das nicht haben. Und ich versuche Therapien, die eben auf diese Autoimmunitätsprozesse abzielen, dann wird dabei nichts rauskommen. Dann werde ich natürlich einzelne Leute haben, die extrem gut ansprechen und das ist auch das, was man klinisch sieht, aber es wird auch welche geben, die überhaupt nicht ansprechen und im Durchschnitt kommt nichts raus und die Studie war negativ. Das zweite Problem, was da war, ist, dass teilweise aus meiner Sicht falsche Outcome Marker verwendet werden, irgendwelche Fragebögen zur Lebensqualität.

Und da muss man auch ganz ehrlich sagen, der klinische Eindruck bei ME/CFS ist oft, wenn ich jetzt eine Therapie mache, natürlich ist die Hoffnung, ich gebe ein Medikament und bam, alles ist gut und die Leute springen aus dem Bett aus und leben wieder. Das ist nicht die Realität. Das ist die Hoffnung, aber das ist nicht die Realität. In Wirklichkeit ist es so, dass medikamentöse Therapie, zumindest mit dem, was wir jetzt momentan zur Verfügung haben, dazu führt, dass der Zustand stabiler wird und dass eben zumindest einmal die Basics des Alltags leichter funktionieren, ohne dass man Rückfälle bekommt. Und da brauche ich halt die richtigen Messtools dafür. Wenn ich da jetzt irgendeinen 0815 Lebensqualitätsfragebogen nehme, was bei manchen Studien passiert ist, dann wird die Studie negativ sein. Und das war zum Beispiel auch das Problem, nehme ich mal an, bei einem dieser Hoffnungsträger, BC007, da hat es Heilsversprechen gegeben aufgrund von Fallberichten und die Studie war negativ und die Firma ist in den Konkurs gegangen.

Aber da war die Studie halt einfach auch vermutlich nicht ganz optimal. Und das ist halt natürlich, was sehr problematisch ist, wo aber mir schon Hoffnung macht, dass das zunehmend erkannt wird, dass eben zum Beispiel an der Charité in Berlin, wo die Professor Scheibenbogen forscht, eben auch unter voller Bewusstsein, dass es so ist, dass es heterogen ist, sie Studien machen und dann retrospektiv sich anschauen wollen, gibt es da Prädiktoren dafür, warum manche Leute ansprechen und andere nicht, dass man dann die nächsten Studien anhand dieser Prädiktoren machen kann. Und ich glaube, das wird zielführend sein. Das wird aber noch ein bisschen dauern, leider. Aber trotzdem, ich bleibe dabei, man kann schon jetzt was machen. Man kann jetzt schon den Leuten signifikant mit dem bisschen, was wir jetzt zur Verfügung haben, kann man weiterhelfen und die Lebensqualität massiv verbessern, wenn man es macht und wenn man es rechtzeitig macht und wenn man konsequent dahinter bleibt und wenn man die Leute halt, und das ist wieder der Punkt, den sie vorher gemacht haben, wenn man die Leute auch in Ruhe lässt.

Matthias Farlik

Gut, dass du noch die Charité erwähnt hast, weil tatsächlich, wenn man sich jetzt als Mediziner noch einmal schnell erkundigen möchte, wie schaut es da aus, was sind die Leitlinien? Da gibt es auch einen sehr guten Fragebogen und auch Leitlinien auf der Homepage von der Charité. Also kann man nur empfehlen, dass man auch einen Blick hinwirft.

Michael Nikbakhsh

Herr Dr. Stingli, die Patientinnen, Patientinnen und Patienten, die zu Ihnen kommen, haben die alle schon eine ME/CFS bzw. Long Covid Diagnose oder haben die sich quasi bei Dr. Googleschlau gemacht, nachdem sie quasi schon einen Leidensweg hinter sich haben und nirgends wirklich gehört wurden?

Michael Stingl

Diese Dr. Google Sache ist natürlich was, was da sehr oft als Argument kommt, warum das alles ein Blödsinn ist. Die Leute lesen das und dann glauben sie, sie haben es. Ich möchte erstens einmal den ersten Punkt, wenn die zu mir in die Ordi kommen, ja, die haben meistens einen langen Leidensweg schon vor sich, die haben die Diagnostik oft schon hinter sich, deswegen wird die von meiner Seite auch nicht zwingend wiederholt. Ich schärfe halt nach, wo ich noch Notwendigkeit sehe, was anzuschauen aber da ist meistens eine sehr breite Diagnostik schon erfolgt und viele von denen, und das wird mir teilweise auch zum Vorwurf gemacht, der steht eh bei allen ME/CFS diagnostizieren, das stimmt nicht, aber es ist natürlich schon ein hoher Prozentsatz, weil viele dieser Leute wirklich klinische ME/CFS haben.

Matthias Farlik

Die sind schon vorausgewählt?

Michael Stingl

Genau, ich habe einen Selektionsbios, definitiv, was das angeht. Also das muss man schon auch sagen. Und das Zweite ist, wenn man jetzt irgendwie sagt, die Leute haben jetzt alle ME/CFS, weil sie darüber nachgelesen haben, ich habe halt so dieses Glück, unter Anführungszeichen, dass ich mich zu dem Zeitpunkt damit begonnen habe zu beschäftigen, wo ME/CFS noch nicht am Tapet war. Und die Leute, die ich damals gesehen hab, da war ME/CFS kein Thema, weder bei den Betroffenen selber noch in der Medizin, die hatten halt diesen klassischen Verlauf für ME/CFS, dass man einen Infekt hat, sich davon nicht erholt, irgendwie merkt man, kommt die Stiegen nicht mehr rauf arbeiten, man ist nachher streichfähig, man muss sich hinlegen, man fühlt sich krank, man sucht Hausärztin, Hausarzt auf, lasst das abklären, es kommt irgendwie nichts dabei raus. Irgendwann kommt dieser Vorschlag, naja, wir finden nichts, sie fühlen sich erschöpft, haben sie einen Stress, wer hat heutzutage keinen Stress? Natürlich, die Leute denken nach und sagen, okay, die Diagnostik ist gemacht worden, es ist dabei irgendwie nichts rausgekommen, Stress habe ich wirklich, vielleicht ist wirklich eine Depression. Die machen dann auch diese Therapie mit, weil das ist ja für sie auch plausibel. Also da sind wir wieder bei diesem Argument, die Leute akzeptieren das nicht, das stimmt ja nicht. Die haben es zu einem großen Teil akzeptiert, weil sie nicht wussten, dass es da noch eine andere Erklärung dafür auch gibt, machen das mit und dann geht es nachher noch schlechter, weil eben psychosomatische Reha dann durch diese Aktivierung, die für Leute mit Depressionen und psychiatrischen Problemen gut ist, dann kontraproduktiv war.

Also das muss man schon auch sehen, wenn man sagt, die Leute lesen sich ein und deswegen glauben sie ME/CFS zu haben. Es gab Jahrzehnte, wo das nicht der Fall war, wo es Dr. Google nicht gegeben hat, wo niemand dran gedacht hat und trotzdem waren die Leute krank. Und das führt auch ein bisschen zu diesem Ding über, dass man jetzt irgendwie immer höhrt, ja, wir müssen bei Long Covid die psychosomatischen Aspekte stärker beleuchten und das wird ja nicht beleuchtet, das wird alles weggeschoben. Man muss sich einfach nur die letzten 30 Jahre anschauen. Postinfektiöse Erkrankungen wurden im Normalfall als psychosomatisch eingeordnet, wurden entsprechend therapiert. Es hat aber nicht dazu geführt, dass das Problem gelöst worden ist.

Und auch diese Studien, die sich auf Aktivierungstherapie fokussieren, die sich auf kognitive Verhaltenstherapie fokussieren, Es gibt eine Studie zur Verwendung von Antidepressiva bei ME/CFS, die war negativ. Also auch die Studien haben nicht wirklich gezeigt, dass das signifikant den Leuten hilft. Es ist schon so, dass psychologische Unterstützung für viele Leute wichtig ist. Es ist schon so, dass es für kognitive Verhaltenstherapie zum Beispiel Daten gibt, dass sie das Symptom der Fatigue besser machen kann, genauso wie kognitive Verhaltenstherapie das Symptom der Fatigue bei Multiplen Sklerose besser machen kann. Aber die kognitive Verhaltenstherapie löst weder bei ME/CFS noch bei Multiple Sklerose das Grundproblem, das wir dabei haben. Und ich glaube, diese Differenzierung muss man einfach machen.

Matthias Farlik

Symptombekämpfung.

Michael Stingl

Symptombekämpfung. Und natürlich profitieren viele Leute davon, dass sie psychiatrisch gesehen werden, dass sie psychologische Unterstützung haben, aber es wird trotzdem das Grundproblem ME/CFS nicht lösen. Genauso wie psychologische Unterstützung bei rheumatischen Erkrankungen, bei Krebserkrankungen, bei Multiple Sklerose im Einzelfall notwendig ist und da hilfreich ist und hilft, das Gesamtbild zu verbessern im Sinne eines psychosomatischen Herangehens, aber eben nicht das Grundproblem löst. Und ich glaube, man muss es einfach so differenziert sehen. Es ist nicht schwarz weiß, aber es ist halt mehr als die Psyche.

Michael Nikbakhsh

Ich glaube, die Frage wurde nämlich gestellt, hat denn die Medizin verstanden, was im Körper passiert, wenn jemand ME/CFS hat? Oder ganz gleich, wie wir es jetzt nennen mögen? Also sprich, was passiert im Körper, wenn jemand nicht mehr in der Lage ist, aufzustehen, nur in einem abgedunkelten Raum zu liegen, monatelang? Wir reden ja auch von Muskelschwund und von wundgelegenen Körpern. Also was sich im Körper verschoben hat, dass man diese Zustände hat, hat man das Verstanden?

Michael Stingl

In Grundzügen. Also es ist nicht so, dass man überhaupt nichts weiß, aber es ist natürlich ausbaufähig, so wie immer. Was man schon weiß, ist, dass es offensichtlich ein Problem gibt, dass der Sauerstoff in der Peripherie ankommt. Und das ist im Prinzip genau das, was die Leute sagen. Mir geht der Saft aus. Man sieht das auch, da gibt es eine wunderbare Studie, die  auch kognitiv, die verglichen haben einen Aufmerksamkeitstest bei Leuten mit ME/CFS versus Kontrollen, die diesen Aufmerksamkeitstest zu mehreren Zeitpunkten wiederholt haben. Dazwischen war auch eine körperliche Anstrengung.

Und man sieht, dass zum ersten Messzeitpunkt die Leistung im Aufmerksamkeitstest bei Leuten mit ME/CFS und gesunden Kontrollen komplett gleich war. Aber je länger das gedauert hat, desto mehr ist die Schere aufgegangen. Leute mit ME/CFS haben zunehmend mehr Fehler gemacht und Leute ohne ME/CFS wurden zunehmend besser. Und das ist halt dieser Aspekt, den man beachten muss. Den Leuten geht der Saft aus und dafür gibt es schon eine Korrelat. Die Tatsache, dass dort zu wenig Sauerstoff ankommt, dass auch die Muskulatur schnell übersäuert, was man eben sieht durch eine Laktatansammlung, das ist schon bekannt. Wir wissen letztendlich im Einzelfall nicht genau, warum es passiert, ob das jetzt eine Gefäßentzündung ist oder es wurden da sogenannte Microclots aufgeworfen, solche kleinen Mikroblutgerinnsel, die solche Gefäße verstopfen.

Was es im Einzelfall ist, das wissen wir noch nicht, das können wir noch nicht diagnostizieren. Aber dass da ein Problem besteht, das wissen wir. Wir wissen auch, dass es immunologische Veränderungen gibt bei den Leuten. Wir wissen, dass Leute mit ME/CFS häufiger eine sogenannte Mastzellaktivierung haben. Gerade jetzt publiziert auch eine Studie von der Professor Untersmayer, wo auch unter anderem meine Patientinnen angeschaut worden sind. Das ist, was man behandeln kann, relativ simpel. Wir wissen auch da wieder eine Studie von der Professor Untersmayer, auch an Leuten aus meiner Ordination, dass Leute mit ME/CFS häufiger Immundefekte haben, dass die einfach anfälliger sind für Infekte, was natürlich auch irgendwie ins Bild reinpasst.

Wir wissen, dass es diverse immunologische Veränderungen auch im Kontext der Post Exertional Malaise gibt, dass da einfach Entzündungsprozesse stattfinden, die dann wieder zu diesem Bild passen, dass die Leute sich krank fühlen. Also es gibt im Prinzip für das, was die Leute klinisch berichten, gibt es Grundlagen. Was uns halt wirklich fehlt, ist der simple, einfache diagnostische Marker, den man einfach in der täglichen Praxis umsetzen kann. Aber das heißt nicht nur weil es jetzt nicht gibt, dass es den nicht in ein paar Jahren geben wird.

Matthias Farlik

Wissenschaftlich gibt es ja zum Glück ein paar erste Hoffnungsschimmer. Der WWTF, der Wiener Wissenschafts und Technologiefonds hat den Finanzierungsschiener jetzt seit dem letzten Jahr. Im Endeffekt, welche spezifische Projekte fördert, die alle Aspekte rund um ME/CFS beleuchten sollen, ist allerdings der finanzielle Rahmen noch immer sehr beschränkt. Angesichts der vielen doch eher unbeantworteten Fragen, wie du sagst, es ist ein breites Gebiet und wir haben sehr viel mehr Fragen, als wir noch immer Antworten haben, erscheint irgendwie doch auch wie ein Tropfen Wasser auf dem heißen Stein. Nichtsdestotrotz ist es ein innovatives Modell und auch von WWTF-seitig her haben wir dann der nächsten Folgen der Dunkelkammer auch tatsächlich einen weiteren Überraschungsgast, der uns das noch ein bisschen näher vorstellen wird.

Michael Nikbakhsh

Ich hätte noch eine Frage, was ich da jetzt mitnehme ist, wenn ich also nicht bei Michael Stingl anklopfen kann, weil meine Anfrage schon triagieren muss, weil so viele Leute bei ihm anklopfen und ich gehe jetzt quasi zu einem Arzt, einer Ärztin, die kein besonderes Vorwissen auf dem Gebiet gesammelt hat, dann kann es mir passieren, dass ich mit Psychopharmaka nach Hause geschickt werde.

Michael Stingl

Es ist prinzipiell das Erleben, das viele Leute haben. Also ob sie wirklich mit Psychopharmaka nach Hause geschickt werden, das muss jetzt nicht sein. Aber ich glaube, es ist einfach generell so, leider. Und wie gesagt, das ist kein individuelles Verschulden, weil wo soll man es lernen, wenn nicht im Studium, wenn nicht in der Ausbildung. Aber ja, es fehlt halt einfach, glaube ich, die Geläufigkeit, das zu behandeln. Genauso wie ich mir nicht zutraue, Epilepsie zu behandeln, verstehe ich es zu 100 Prozent, wenn ein Kollegin oder Kollege, der keine Erfahrung mit ME/CFS hat, sich nicht zutraut, diese Therapieansätze zu verwenden, die ich halt verwende. Aber ich habe auch die Erfahrung damit und das ist ein bisschen der Punkt, weil du jetzt gerade den WWTF angesprochen hast.

Natürlich ist der Tropfen auf den heißen Stein, aber ganz ehrlich, wir brauchen uns in Österreich auch nicht das Licht unter den Scheffel stellen. Wir könnten ein Vorbild sein. Gerade diese Kleinheit von Österreich ist vielleicht der Vorteil, dass es vielleicht leichter ist, da Leute zu vernetzen, die sich wirklich damit auskennen. Und ich finde es großartig, wenn man jetzt hört, dass Wien was macht, trotz Widerstand von Leuten, die gesagt haben, brauchen wir eh nicht. Ich finde es großartig, dass es in anderen Bundesländern geplant ist, im Burgenland, was man hört und so. Also es ist super, dass sich was tut. Und ich glaube, man muss immer diesen realistischen Blick haben.

Beim besten Willen wird das nicht über Nacht entstehen, weil es bringt sehr wenig, wenn ich irgendwo ein Schild hinhänge und sage, das ist ein ME/CFS Zentrum und dann sitzt dort niemand mit der entsprechenden Expertise. Aber diese Expertise muss man schaffen. Und ich glaube, dass man das in Österreich wahrscheinlich besser hinkriegt als in manchen anderen Ländern. Man muss es halt wollen.

Matthias Farlik

Das ist leicht möglich.

Edith Meinhart

Kann man das als Schlusswort lassen. Und an die Leute, die jetzt vielleicht verzweifeln in den Sinn, man haltet durch, es wird was geben.

Michael Stingl

Ich bin optimistisch, ich kenne diese Verläufe, wo es sich gut entwickelt hat oder wo zumindest eine deutlich bessere Lebensqualität gegeben war. Und ich glaube, es ist einfach Aufgabe von uns allen, von der Medizin, die einfach die Verpflichtung hat, das ernst zu nehmen und sich wirklich einmal auch an dem zu orientieren, was wir schon kennen und nicht einfach irgendwelche alten Ideologien anzuhängen, wo man sagt, das ist psychosomatisch und wir brauchen einfach Psychotherapie und Bewegung und dann passt es schon. Vom Sozialsystem, die einfach zur Kenntnis nimmt, dass es Leute gibt, die PEM haben, die einfach nicht in dem Ausmaß arbeitsfähig sind und wo auch diese PEM in der Einschätzung der Arbeitsfähigkeit berücksichtigt werden muss, wo die Leute einfach auch diese Ruhe brauchen. Es kann sich verbessern, Es dauert oft lang, es dauert oft auch im besten Fall eine gewisse Zeit. Und diese Zeit muss man den Leuten geben. Gibt man es ihnen nicht, schickt man sie ständig in irgendwelche Situationen, wo sich der Zustand verschlechtert, dann wird man genau das, was wir alle wollen, das Sozialsystem, der Arbeitgeber, die Leute selber, wir als Ärztinnen und Ärzte, das wird nicht erreichen, wenn man Leute ständig in Situation bringt, wo sie sich wieder verschlechtern. Das ist einfach kontraproduktiv und das ist dumm und das gehört abgestellt, weil sonst würden wir das Problem nicht lösen. Das ist keine Frage des Vielens. Die Leute würden es wollen.

Matthias Farlik

Ich glaube, mit diesem Appell können wir die Folge gut abschließen. Dieser Appell an die Ärzteschaft, die Kranken und Pensionsversicherungsträger, die Unternehmer. Im Prinzip sind wir da alle gefragt. Danke fürs Kommen.

Michael Nikbakhsh

Michael.

Michael Stingl

Vielen Dank für die Einladung. 

Matthias Farlik

War sehr erhellend. Danke euch allen für die wunderbare Diskussion heute und Ihnen zu Hause, den Hörerinnen und Hörern, danke ich ebenso fürs Zuhören und bis zum nächsten Mal. Wir melden uns ziemlich sicher bald wieder.

Autor:in:

Matthias Farlik

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