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Wie lange kann sich Europa noch halten?
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Die Frage, wie lange sich Europa noch halten kann, führt nach entsprechender Analyse dazugehöriger Parameter zu folgendem Fazit: Europa kann sich kurzfristig halten, solange die USA den sicherheitspolitischen Kern absichern. Mittelfristig verliert Europa Handlungsspielraum, weil Abschreckung, Industrie, Energie und Entscheidungsfähigkeit nicht aus eigener Kraft getragen werden. Langfristig kann sich Europa in dieser Form überhaupt nicht halten.
Herbert Bauer
Grüß Gott und einen guten Tag, heute möchte ich der Frage nachgehen, wie lange sich Europa noch halten kann. Als „Schweine“, die sich an amerikanische Politik angehängt hätten und am fremden Trog fressen wollen, so bezeichnet Wladimir Putin gemäß Medienmeldungen die europäischen Staats- und Regierungschefs in einer Rede vor seinen Militärs.
Das ist kein Ausrutscher. Es ist eine strategische Zuschreibung: Europa ist kein Gegner, kein Machtpol, sondern fremdbestimmtes Anhängsel. Aber auch aus Washington kommt keine Entwarnung, sondern nur nüchterne Machtansage. Die neue US-Sicherheitsstrategie fordert, dass Europa selbst Verantwortung für seine Verteidigung übernehmen muss. Mehr Geld, mehr Fähigkeiten, weniger Abhängigkeit.
Der Subtext ist eindeutig: Der amerikanische Schutzschirm ist kein Naturgesetz; der Kauf amerikanischer Waffen schon. Und während Moskau Drohungen ausspricht und Washington die Lastenteilung einfordert, zeigt Europa 2025, wenn man sarkastisch sein will, wo seine Interessen liegen. Die Europäische Union normiert per Durchführungsverordnung, dass auf grünen Kiwis der Satz stehen darf: „Der Verzehr grüner Kiwifrüchte trägt zur normalen Darmfunktion bei, indem die Stuhlfrequenz erhöht wird.“
Was Europa allerdings nicht normiert, ist seine eigene Sicherheit. Entscheidende Elemente wie eine funktionierende, auch nukleare Abschreckung bleiben ausgelagert. Militärische Handlungsfähigkeit bleibt fragmentiert. Strategische Verantwortung wird an die USA und die NATO delegiert, in der Hoffnung, dass es schon gut gehen wird. So entsteht ein Kontinent, der exakt regelt, was eine Kiwi über den menschlichen Darm sagen darf, aber nicht regelt, wer im Ernstfall seine Handelswege, seine Energieversorgung und seine Außengrenzen wie schützen wird. Europa wirkt nicht wie ein Akteur, bestenfalls wie ein hervorragend gepflegtes Regelwerk. Und genau deshalb ist Putins oder Trumps Verachtung wirksam, nicht weil sie gerechtfertigt wäre, sondern weil sie plausibel erscheint. Wie lange kann sich so ein Europa also noch halten?
Prüfen wir hierzu einmal die geopolitische Realität, nämlich wer derzeit über Europas Sicherheit entscheidet?
Sicherheit entsteht nicht durch frommen Wunsch, sondern durch die Fähigkeit sie durchsetzen zu können. Wer im Ernstfall entscheiden kann, wer eskalieren kann und vorallem wer durchhalten kann, der bestimmt die Sicherheitsordnung. In Europa liegen diese Hebel nicht in europäischer Hand. Die letzte Sicherheitsgarantie dieses Kontinents im Sinne einer ultima ratio ist nuklear. Diese Garantie wird aber nicht in Brüssel kontrolliert, sondern in Washington. Frankreich und Großbritannien verfügen zwar über eigene nukleare Fähigkeiten, doch diese sind national organisiert, politisch nicht europäisiert und strategisch nicht auf eine gemeinsame europäische Verteidigung ausgerichtet.
Europa als politischer Raum besitzt weder eine eigene nukleare Entscheidungsstruktur noch eine gemeinsame Eskalationslogik. Damit gilt ein einfacher machtpolitischer Grundsatz: Wer die letzte Eskalationsstufe nicht kontrolliert, bestimmt sie auch nicht und spielt daher auch nicht mit. Dasselbe gilt für die Fähigkeiten, die moderne Streitkräfte erst handlungsfähig machen. Militärische Macht entsteht heute nicht durch Truppenstärke allein, sondern durch Aufklärung, Datenfusion, Führungssysteme, Luftbetankung, Raketenabwehr und präzise Zielzuweisung.
Diese sogenannten Enabler, also Ermöglicher, werden in Europa überwiegend von den USA bereitgestellt oder kontrolliert. Nationale europäische Streitkräfte können kämpfen, aber ohne diese Fähigkeiten halt nur eingeschränkt, langsamer und weniger glaubwürdig. Das ist keine moralische Bewertung, sondern eine strukturelle Abhängigkeit, die seit Jahrzehnten besteht und bei der nun politische Laune in Washington darüber entscheidet, ob ein High-End-System im Ernstfall auch High-End bleibt.
Wer Software, Daten und Unterstützung kontrolliert, kontrolliert die Gefechtswirksamkeit. Die NATO ist zwar das zentrale Sicherheitsinstrument Europas, aber sie ist kein europäisches Machtinstrument. Sie ist ein transatlantisches Bündnis mit klarer Asymmetrie. Politisch tritt Europa fallweise geschlossen auf, militärisch bleibt es fragmentiert. Unterschiedliche Doktrinen, unterschiedliche Ausrüstung, unterschiedliche Entscheidungswege verlangsamen Reaktion, erschweren Koordination und senken die Abschreckungswirkung. Wer im Krisenfall zu lange braucht, um sich zu einigen, sendet kein Signal der Stärke, sondern der Unsicherheit.
Diese Realität zeigt sich besonders deutlich in den aktuellen geopolitischen Brennpunkten. Ob Ostsee, Schwarzes Meer, Rotes Meer oder östliches Mittelmeer – Europa ist wirtschaftlich betroffen, sicherheitspolitisch exponiert und politisch involviert.
Doch die strategischen Eskalationslinien verlaufen nicht durch Brüssel. Sie verlaufen zwischen Washington, Moskau, Peking und regionalen Akteuren. Europa ist Teil der Gleichung, aber nicht ihr Autor. Aus dieser Struktur erklärt sich auch die Wahrnehmung von außen. Wenn Russland Europa nicht als Gegner, sondern als abhängigen Raum beschreibt, dann ist das keine bloße Provokation, sondern eine Zuschreibung entlang realer Machtverhältnisse. Und wenn die USA Europa auffordern, endlich selbst Verantwortung für die eigene Verteidigung zu übernehmen, dann ist das weniger Solidaritätsappell als nüchterne Lastenrechnung. Europa lebt sicherheitspolitisch in einem Zwischenzustand.
Damit ist klar, worüber ich weiters sprechen möchte. Denn erst wenn man versteht, wer tatsächlich über Europas Sicherheit entscheidet, lässt sich beurteilen, was Europa selbst leisten kann – und warum die Kluft zwischen Selbstbild und geopolitischer Realität immer größer wird. Schauen wir uns also die europäische militärische Handlungsfähigkeit als Option der Abschreckung an: Abschreckung ist kein politisches Statement, sondern ein militärisches Versprechen. Und dieses Versprechen muss glaubwürdig sein; jederzeit, über längere Zeit und unabhängig von Stimmungen. Genau hier liegt Europas zentrales Problem: Es verfügt über Streitkräfte, aber nicht über eine kohärente militärische Handlungsfähigkeit.
Europa hat Soldaten, Waffen, Haushaltslinien und Strategiepapiere. Was fehlt, ist die Fähigkeit, diese Elemente schnell, konsensual, einheitlich und durchhaltend in Wirkung zu bringen. Militärische Macht entsteht nicht durch Existenz, sondern durch Integration. Und an dieser Integration scheitert Europa seit Jahren. Die europäischen Streitkräfte sind national organisiert, unterschiedlich ausgerüstet, unterschiedlich ausgebildet und unterschiedlich geführt. Beschaffungssysteme sind weitgehend inkompatibel, Wartung und Logistik zersplittert, Munitionssorten vielfältig, Standards uneinheitlich.
Im Alltag ist das ineffizient, im Ernstfall ist es gefährlich. Abschreckung lebt davon, dass ein potenzieller Gegner weiß, was im Konfliktfall passieren kann – und wie schnell. Fragmentierung erzeugt Unklarheit, und Unklarheit lädt zum Testen ein. Besonders deutlich wird das bei der Frage der Durchhaltefähigkeit. Wer keine ausreichenden Munitionsbestände hat, wer die Produktion nicht schnell genug hochfahren kann, wer Ersatzteile und Logistik nicht gesichert hat, zeigt seine Verwundbarkeit. Europa hat über Jahrzehnte auf Effizienz, Just-in-time Lieferung und minimale Lagerhaltung gesetzt. Militärisch bedeutet das: geringe Reserven, kurze Atemdauer, hohe Abhängigkeit von Nachschub, oft sogar von außerhalb des Kontinents.
Hinzu kommt dann noch das Problem des Entscheidungstempos. Militärische Handlungsfähigkeit ist nicht nur eine Frage der Ausrüstung, sondern der Führung. Wer entscheidet im Krisenfall? Wer gibt den Befehl? Wer trägt die politische Verantwortung? In Europa sind diese Fragen national beantwortet, nicht europäisch. Das verlangsamt Reaktionen und verwässert Verantwortung. Abschreckung aber verlangt Klarheit sowohl nach innen als auch nach außen.
Auch dort, wo Europa investiert, bleibt das Muster erkennbar. Mehr Geld fließt, mehr Ankündigungen werden gemacht, mehr Programme aufgelegt. Doch Geld ersetzt keine Struktur. Ohne gemeinsame Planung, ohne standardisierte Systeme, ohne abgestimmte Einsatzkonzepte bleibt Aufrüstung additiv, nicht transformativ. Sie erhöht Zahlen, aber nicht zwingend Wirkung.
Das Ergebnis ist paradox. Europa verfügt zusammengenommen über erhebliche militärische Ressourcen. Doch weil diese Ressourcen nicht als einheitliches Instrument auftreten, erzeugen sie weniger Abschreckung, als ihre Summe ermöglichen würde.
Potenzielle Gegner sehen keinen geschlossenen Akteur, sondern viele nationale Akteure mit unterschiedlichen Schwellen, Interessen und Reaktionsmustern. Potentielle Gegner fördern diese Uneinigkeit auch ganz geschickt und wer weiß, ob nicht auch Sie, geneigte Hörerin und geneigter Hörer, wissentlich oder unwissentlich, zum Träger der spaltenden Botschaften gemacht wurden. Damit bleibt Europas militärische Handlungsfähigkeit begrenzt. Nicht nur aus Mangel an Geld oder Technik, sondern aus Mangel an Zusammenführung. Abschreckung ist ein Systemeffekt. Und solange Europa militärisch ein nicht zusammengesetztes Puzzle bleibt, wirkt es nicht abschreckend, sondern angreifbar.
Dieses Defizit lässt sich nicht wegregulieren und nicht wegkommunizieren. Es ist der Kern dessen, warum Europa trotz steigender Verteidigungsausgaben sicherheitspolitisch nicht als geschlossener Machtfaktor wahrgenommen wird. Und es erklärt, warum militärische Fragmentierung nicht nur ein Organisationsproblem ist, sondern eine strategische Schwäche.
Schauen wir uns aber auch den unsichtbaren Krieg im Bereich Industrie, Energie und Abhängigkeit an: Moderne strategische Machtverhältnisse und das daraus resultierende Gewicht auf der Weltbühne werden nicht nur an Frontlinien entschieden, sondern in Fabriken, Kraftwerken und Lieferketten. Wer industrielle Kapazität, Energieversorgung und Rohstoffzugang kontrolliert, verfügt über strategische Tiefe. Wer das nicht tut, verliert Handlungsspielraum, noch bevor militärische Optionen real werden. Europa hat diesen Zusammenhang lange unterschätzt, um nicht glasklar zu sagen, aus den Augen verloren. Sicherheitspolitik wurde vom ökonomischen Unterbau getrennt gedacht. Industrie galt als Marktfrage, Energie als Umweltfrage, Rohstoffe als Handelsfrage. In geopolitischen Auseinandersetzungen verschmelzen diese Bereiche jedoch zu einem einheitlichen Machtfaktor. Abschreckung ist nur wirksam, wenn sie durchhaltefähig ist. Das setzt skalierbare Rüstungsproduktion voraus: ausreichende Lager, kurze Vorlaufzeiten und die Fähigkeit zur schnellen Nachproduktion.
Europas industrielle Basis wurde über Jahre auf Effizienz und Kostenoptimierung ausgerichtet. Das schon erwähnte Just-in-time ist wirtschaftlich sinnvoll, strategisch jedoch höchst riskant. Im militärischen Kontext bedeutet das geringe Lagerbestände, lange Vorlaufzeiten und hohe Abhängigkeit von externen Zulieferern. Energie ist dabei der entscheidende Engpass. Energiepreise wirken wie eine Waffe. Sie bestimmen industrielle Leistungsfähigkeit, gesellschaftliche Belastbarkeit und strategische Ausdauer. Hohe Preise, Importabhängigkeit und politische Zielkonflikte begrenzen Europas Beweglichkeit erheblich.
Wer Energie nicht sicher, bezahlbar und planbar zur Verfügung hat, kann keinen längeren Konflikt durchhalten. Hinzu kommen Abhängigkeiten bei Rohstoffen und Schlüsseltechnologien. Kritische Materialien und komplexe Lieferketten lassen sich nicht kurzfristig ersetzen. Diese Abhängigkeiten wirken bereits: Sie verengen politische Optionen und erhöhen die Kosten jeder Eskalation. Andere Akteure denken Sicherheit als integriertes System aus Industrie, Energie und militärischer Fähigkeit. Europa hingegen betreibt Sicherheitspolitik auf einer industriellen und energetischen Basis, die für Normalbetrieb optimiert ist, nicht für strategische Belastung oder Eskalation. Abschreckung ohne Produktionskraft und Energie bleibt ein Wunsch ohne Substanz.
Das führt mich auch noch dazu: Schauen wir auch noch auf die psychische Resilienz und den Verteidigungswillen. Wer über Waffen, Budgets und Strategien spricht, muss auch über etwas sprechen, das entscheidend wirken kann: den mentalen Zustand einer Gesellschaft. Abschreckung beginnt nicht auf dem Gefechtsfeld, sondern im Kopf. Wer nicht bereit ist, sich zu verteidigen, wird angetestet oder erpresst werden, sobald es günstig erscheint.
Europa leidet hier an einer besonderen Form von Selbsttäuschung. Die eigene Ablehnung von Krieg wird als taugliche sicherheitspolitische Position missverstanden. Pazifismus wird zur erfolgversprechenden Handlungsoption erklärt. Das ist menschlich verständlich, aber strategisch fatal. Frieden ist kein deklarierter Zustand, sondern das Ergebnis von Machtbalance. Und Machtbalance entsteht nur, wenn Widerstand nicht nur möglich, sondern auch wahrscheinlich erscheint.
Problematisch wird es dort, wo diese Haltung politischen Einfluss gewinnt. Nicht aus moralischer Verwerflichkeit, sondern weil sie zu Lähmung führt. Wenn notwendige Maßnahmen aus eigenem Unvermögen, Angst vor Kritik oder Widerstand unterlassen werden, wird Abschreckung schleichend ausgehöhlt. Die Schwelle des Zumutbaren sinkt, und mit ihr die Glaubwürdigkeit. Europa diskutiert dann oft das Falsche. Man streitet über Komfort und Symbolik, während die existenziellen Fragen ungelöst bleiben. Es ist, als würde man über die Qualität der Hauspatschen sprechen, während die Haustür offensteht. Diese Prioritätenverschiebung ist Ausdruck einer Gesellschaft, die sich lange auf vermeintlich ewigen Frieden und externe Sicherheitsgarantien verlassen hat.
Psychische Resilienz bedeutet keine Militarisierung des Denkens. Sie bedeutet die Fähigkeit, zwischen Wichtigem und Existenziellem zu unterscheiden, Belastungen auszuhalten und Sicherheit nicht als Selbstverständlichkeit zu behandeln. Ohne diese mentale Grundlage bleiben militärische Fähigkeiten hohl. Sie existieren auf dem Papier, aber nicht im Kopf – und damit nicht in der Realität.
Schauen wir uns noch eine europäische Illusion an: Europa beschreibt sich seit Jahren gern als „normative Macht“. Gemeint ist die Vorstellung, dass Regeln, Werte, Standards und Recht ausreichen, um internationale Ordnung zu prägen. In stabilen Phasen hat dieses Selbstbild funktioniert. Binnenmarkt, Handelsregeln und technische Standards verschafften Einfluss, ohne Gewalt einsetzen zu müssen. Diese Logik trägt jedoch nur so lange, wie andere Akteure die Sicherheitskosten übernehmen und mitspielen. Im sicherheitspolitischen Umfeld des Jahres 2025 ist diese Vorstellung zur Illusion geworden. Normen wirken nur dort, wo sie durchsetzbar sind. Regeln entfalten ihre Macht nur dann, wenn hinter ihnen die Fähigkeit steht, sie notfalls zu erzwingen. Wo diese Fähigkeit fehlt, werden Normen zu Appellen und Appelle werden ignoriert, sobald sie andere Interessen berühren. Das Problem Europas ist nicht, dass es Werte formuliert. Das Problem ist, dass es diese Werte zunehmend an die Stelle von Macht gesetzt hat und es auch noch immer tut. Sprache soll Fähigkeit, Strategiepapiere sollen Abschreckung und Gipfelkommuniqués sollen Durchhaltefähigkeit ersetzen. Nach innen erzeugt das den Eindruck von Aktivität, nach außen den Eindruck von Leere und Schwäche.
Gerade im militärischen Kontext ist diese Diskrepanz fatal. Abschreckung funktioniert nicht durch moralische Überlegenheit, sondern durch Glaubwürdigkeit. Glaubwürdig ist nur, wer bereit und in der Lage ist, Kosten zu verursachen und zu tragen. Hinzu kommt eine gefährliche Verkürzung des Pazifismus. Die Ablehnung von Krieg wird mit der Annahme verwechselt, sie sei allein durch die Aufstellung der Forderung auch durchsetzbar. Der Wunsch nach Frieden wird zur Strategie erklärt. Doch Frieden entsteht nicht durch Absicht, sondern durch Kalkül. Wer glaubt, dass die eigene Friedfertigkeit den Gegner bindet, projiziert die eigenen Maßstäbe auf Akteure, die nach anderen Regeln handeln. Diese Haltung wirkt bis in politische Entscheidungsprozesse hinein. Regierungen zögern notwendige Maßnahmen hinaus, weil sie innenpolitisch als Eskalation wahrgenommen werden und Stimmen kosten könnten. Abschreckung wird nicht abgelehnt, sondern vertagt. Aufrüstung wird angekündigt, aber verwässert. Verantwortung wird rhetorisch übernommen, praktisch jedoch delegiert.
So entsteht ein sicherheitspolitischer Schwebezustand, der weder schützt noch abschreckt. In einer Welt, in der andere Akteure Macht offen als Instrument einsetzen, wirkt diese Haltung sehr naiv. Das erklärt, warum Europas Anspruch auf Einfluss im Ausland nicht ernst genommen wird. Nicht aus Bosheit, sondern aus Erfahrung. Wer Macht scheut, wird nicht als moralisch überlegen wahrgenommen, sondern als berechenbar schwach. Und wer Schwäche mit Sprache kaschiert, verliert an Glaubwürdigkeit. Rhetorik schützt weder Grenzen noch Handelswege noch Gesellschaften. Genau an diesem Punkt kippt Europas Selbstbild – und macht den Weg frei für jene Verachtung, die von außen so leicht Anschluss findet.
Ich probiere wieder ein Fazit und eine Beantwortung der Eingangsfrage, wie lange kann sich Europa noch halten: Europa kann sich kurzfristig halten, solange die USA den sicherheitspolitischen Kern absichern. Mittelfristig verliert Europa Handlungsspielraum, weil Abschreckung, Industrie, Energie und Entscheidungsfähigkeit nicht aus eigener Kraft getragen werden. Langfristig kann sich Europa in dieser Form überhaupt nicht halten.
In einer Welt, die nach Machtlogik funktioniert, ist das ein schwacher Zustand. Wer Sicherheit nicht selbst garantieren kann, wird nicht ernst genommen, sondern eingeplant. Deshalb erscheint die Missachtung von außen plausibel. Nicht, weil Europa wertlos wäre, sondern weil es seine eigene Existenzsicherung nicht konsequent organisiert hat. Daran ändern auch die unverzichtbaren Kredite für die Ukraine nichts. Europa hält sich noch, nicht weil es stark ist – sondern weil es von anderen noch geschützt wird. Das ist allerdings kein Modell für die Zukunft.
Autor:in:Herbert Bauer |