Die Dunkelkammer History
Israel/Gaza: "Wie in Hiroshima"
Die Ethik im Gaza-Krieg liegt am Boden. Hohe israelische Militärs fordern ein Ende des Krieges, doch Premier Netanyahu beschädigt die Armee weiter und geht auf Eskalation.
Christa Zöchling
Guten Tag, hier ist Christa Zöchling. Ich begrüße Sie zu einer weiteren Dunkelkammer aus der Reihe History. Heute geht es um den Krieg in Gaza. Der israelische Generalstabschef Ayal Samir fordert in einem Videoaufruf ein Ende dieses Krieges. Keine weitere Besetzung des gesamten Gazastreifens, keine weiteren Angriffe auf Gaza Stadt. Eine Eskalation würde die noch lebenden Geiseln in größte Gefahr bringen, sagt er, und seine Soldaten können einfach nicht mehr, sie sind erschöpft.
Auch ehemalige Geheimdienstchefs melden sich in diesen Tagen zu Wort. Sie sagen, dieser Krieg, der anfangs in den Augen der Welt als gerecht angesehen wurde, mache Israel mehr und mehr zum internationalen Paria. Hunderte Kampfpiloten gehen in Tel Aviv derzeit auf die Straße und sagen Stopp. Ein ehemaliger Generalstabschef spricht auf ihrer Kundgebung von einem törichten Krieg. Die Luftbilder von Gaza zeigen ein Trümmerfeld, das sich den gesamten Küstenstreifen entlangzieht. Kleine Inseln dazwischen, auf denen noch Häuser und Anlagen stehen, bebaute Felder selten.
Die israelische Armee war immer der Stolz des Landes gewesen, das Herzstück seiner Identität, bei Linken wie bei Rechten. Ich erinnere an die fünfstündige Dokumentation über die israelische Armee, die der französische Philosoph und Regisseur Claude Landsmann in den 1990er Jahren veröffentlicht hat. Ein General sagt darin: „Unsere Armee ist rein, sie tötet keine Kinder. Wir haben ein Gewissen, Werte und aufgrund unserer Moral gibt es nur wenige Opfer.“ Einen Podcast zur Dokumentation von Claude Lanzmann habe ich im Juni 2024 auf der Homepage der Dunkelkammer veröffentlicht. Sie können ihn nachhören.
Im Mai 2024 hat der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag gegen Premier Netanyahu und seinen damaligen Verteidigungsminister Joaf Galland einen Haftbefehl ausgestellt, der Vorwurf: Kriegsverbrechen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Aushungern von Zivilisten. Galland wurde dann im November des Vorjahres entlassen, weil er Netanjahus Vorgaben kritisiert hatte, und auf einen Geiseldeal gedrängt. Von da an ist es nur noch schlimmer geworden. Es gibt ein Protokoll von Aussagen israelischer Soldaten, auch höherer Ränge, aus den ersten Monaten des Kriegs, die als Bodentruppen in Gaza einmarschiert sind. Diese Dokumentation wurde von der NGO Breaking the Silence hergestellt und veröffentlicht. Breaking the Silence war im Jahr 2004 von Veteranen der israelischen Streitkräfte gegründet worden, finanziert von privaten Spendern und Stiftungen, westlichen Institutionen, der EU und den Vereinten Nationen. Der Bericht umfasst Aussagen von Oktober 2023 bis Februar 2024.
Entlang der gesamten Grenze zu Israel auf palästinensischem Boden wurde damals in den ersten Wochen schon ein 1 bis 2 oder bis 1,8 Kilometer breiter Streifen dem Erdboden gleichgemacht. Das klingt nach wenig, doch der Gazastreifen ist in zwei Dritteln seiner Länge kaum mehr als sechs Kilometer breit. Das militärische Ziel war: Eine planierte Zone, wo nichts mehr wächst, kein Gebäude mehr steht, kein Mensch sich verstecken kann. Eine Todeszone, die eine klare Sichtlinie und Schusslinie auf alles bietet, was sich bewegt. Palästinenser war es verboten, diese Zone zu betreten, doch eine Markierung am Boden gab es nicht. Wer die unsichtbare Linie übertrat, wurde in den meisten Fällen erschossen. 35 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche in Gaza wurden allein durch die Schaffung dieser Zone zerstört und mehr als 3.500 Gebäude. Ganze Dörfer in dieser Zone an diesem Grenzbereich wurden geschliffen. Schulen, Moscheen, Fabriken, Friedhöfe. Zum Einsatz kamen Bulldozer, Minen und Sprengstoff. Zurück blieb eine Brache. Einige Soldaten in diesem Bericht geben an, einzelne Kommandeure hätten die Zerstörung als Mittel zur Rache und Bestrafung für die Gräueltaten vom 7. Oktober gutgeheißen.
Ein Dorf in dieser Zone, in dem Tunnel auf die israelische Seite hinüber gefunden wurden, wurde offenbar mit großer Leidenschaft verwüstet. Ich zitiere: „Dieses Dorf hat unsere Leute massakriert. Wir haben nur zurückgemetzelt,“ sagt ein Zeuge dieses Berichts. Er fand das nur gerecht.
Und nun ein paar wörtliche Zeugenaussagen. Ein Reserveoffizier Panzerkorps Nördlicher Gazastreifen: „Es gibt keine Zivilbevölkerung. Es sind alle Terroristen. Es gibt keine Unschuldigen.“
Oder: „Schluss mit dem ganzen Mist. Keine Spielchen mehr. Das ist ein Befehl. Im Grunde wird alles niedergemäht. Alles.“ Auf die Frage des Interviewers: „Und Obstgärten?“ „Ja, auch.“ „Kuhställe?“ „Ja.“ „Hühnerställe?“ „Ja, ja.“ „Und wie sieht die Gegend danach aus?“ „Wie in Hiroshima.“
Ein Unteroffizier fünfter Brigade aus Khaniolis: „Wir rückten zu einem Manöver an einen Ort namens Kirbat vor, der gegenüber den grenznahen Kibbuz Gemeinden Nirim und Niros liegt. Wir waren in drei Tagen fertig. Es gab dort alle möglichen Ausgänge aus Tunnelschächten und Unmengen an Gegenständen von Geiseln, die bis hin zu Ausweisen, die von Niros gestohlen worden waren. In Kirbat durfte kein Gebäude mehr stehen. Ausnahmen waren die UNVRA Schule und eine kleine Wasserversorgungsanlage. Wir machten es mit Minen, großen rostigen Haftminen, die aus einem tiefen Lager geholt wurden. Im Grunde bestand unsere Hauptmission darin, hunderte von Gebäuden in die Luft zu sprengen.“
Eine Aussage desselben: „Es war kein Kompaniechef, der im Feld durchgedreht wäre, oder ein verrückter Kommandeur, der sich für Kilgore aus Apokalypse hält. Nein, Häuser, Schuppen, Fabriken, alles weg. Als Soldat versteht man eine solche Begründung. In ein paar Dutzend Häusern fanden wir Habseligkeiten von Geiseln. Verdammt, und da soll ich keine Gefühle haben?“
Ein Unteroffizier des Pionierkorps im Norden: „Wir reißen Häuser ab. Man steht morgens auf und sucht sich die Standorte aus. 1, 2, 3, 4, 5 dieser Zug. 6, 7, 8, 9, 10 ein anderer Zug. Jeden Tag, außer wenn uns der Sprengstoff ausgeht.“
Ein Hauptmann eines Panzerkorps, stationiert im Süden: „Jeder, der eine bestimmte von uns definierte Grenze überschreitet, wird als Bedrohung betrachtet und zum Tode verurteilt.“
Ein Unteroffizier eines Panzerkorps im Süden: „Wenn beispielsweise Kameras in einem Gebäude entdeckt werden, feuert man eine Granate ab, um sie auszuschalten. Es wird auf alles geschossen, was verdächtig ist und eine Gefahr für unsere Streitkräfte darstellen könnte.“
Ein Oberfeldwebel Nördlicher Gazastreifen: „Vorher Felder oder Haine, nachher Sanddünenzerstörung. Es hat mich nicht überrascht. Mir war klar, dass es genau das ist, was passiert, dass wir uns nämlich den Gazastreifen aneignen werden.“
Ein Unteroffizier Nördlicher Gazastreifen: „Befehl im Sperrgebiet: Erwachsene Männer töten, Frauen und Kinder schießen, um sie zu vertreiben.“
Ein Hauptmann Panzerkorps Süden: „Es gab viel Brandstiftung, nur um des Brandstiftens willen, irgendwo zwischen dem Wunsch, einen psychologischen Effekt zu erzielen und einfach ohne Grund.“
Derselbe: „Die Unterscheidung, was zivil ist und was nicht, hat versagt. Vielleicht ist es die Schuld der Hamas, aber wir haben diesen Krieg aus Leid, Schmerz und Wut und aus dem Gefühl heraus begonnen, erfolgreich sein zu müssen. Die Unterscheidung zwischen Zivilisten und terroristischer Infrastruktur war egal. Niemand hat sich darum gekümmert.“
Ein Fähnrich, Panzerkorps Nördlicher Gazastreifen: „Ein Soldat, der getötet wird, ist eine Sache, durch eine Entführung eines Soldaten. Das versetzt die Armee in Todesangst.“
Derselbe: „Ein Typ tauchte auf mit einer Tasche und wurde beschuldigt, ein Terrorist zu sein.“
Dann ein anderer, ein weiterer: „Ich glaube, die hatten Hunger und wollten Wildpflanzen pflücken. Doch in diesem Moment hat die israelische Armee tatsächlich den Wunsch der Öffentlichkeit erfüllt, der besagt: Es gibt keine Unschuldigen in Gaza. Wir werden es Ihnen zeigen. Leute wurden zur Zielscheibe, weil sie Säcke in der Hand hatten.“
Ein Unteroffizier, nördlicher Gazastreifen: „Man kam, fuhr drei Tage lang mit einem Achsariot, einem gepanzerten Transportwagen, dessen Name grob übersetzt ein Grausamer bedeutet, hinein und machte das Gebiet dem Erdboden gleich. Es war eine Schande. Wunderschöne Auberginen und wunderschöner Blumenkohl.“
Derselbe: „Da war auch eine Industrieanlage, die, wenn ich mich nicht irre, nach den Osloer Abkommen eingerichtet wurde, als noch Hoffnung auf Frieden bestand und man davon ausging, dass Tonnen von Gütern den Grenzübergang passieren würden. Offenbar diente es auch als Hamas Stützpunkt am 7. Oktober und dann war es nur noch ein Trümmerhaufen.
Man kann annehmen, dass ein Gutteil dieser Aussagen in den Haftbefehl des Strafgerichtshof in Den Haag eingeflossen sind. Und wie wir alle wissen, kam es dann nur noch schlimmer.
Die Bombenabwürfe auf Spitäler, Schulen und Wohnhäuser und Fahrzeuge, Tonnenschwere Bomben aus US-Produktion waren nicht teil dieses Berichts von Breaking the Silence, auch nicht der Häuserkampf in Gaza Stadt oder Kanich Younis und so weiter und so fort. Der renommierte Journalist und Dokumentarfilmer Yuval Abraham, bekannt geworden für No Other Land, das in diesem Jahr den Oscar gewann, hat recherchiert, wie es zu abertausenden palästinensischen Toten kam.
Er sagt, die Armee habe nach Geheimdienst Informationen Verdächtiger in ein KI-System eingespeist, Wohnadressen und Handyordnung damit verknüpft. So seien abertausende Bewohner in Gaza als Terroristen markiert worden. KI generierte Tötungslisten seien dann für Bombenabschüsse verwendet worden. Die KI-Unterstützung gibt die Armee zu, automatisierte KI-Tötungslisten werden dementiert. Laut Abraham sollen mit einem anderen System auch die Häuser von Verdächtigen, in die sie etwa nachts zurückgekehrt sind, ein KI-Ziel gewesen sein. Der Tod ganzer Familien und Nachbarn wurde in solchen Fällen als Kollateralschaden hingenommen. Das hat Abraham aus Quellen des Geheimdiensts und aus Quellen der Armee persönlich erfahren. Für die Ausschaltung eines hochrangigen Hamas Funktionärs sei in Einzelfällen ein Kollateralschaden von 100 Zivilisten genehmigt worden.
Man fragt sich natürlich: Ist das noch ein Krieg oder die gezielte Vernichtung eines Volkes? Die Debatte um den Begriff Genozid oder Völkermord hat mittlerweile Leute erfasst, die nie im Leben geglaubt hätten, sie würden das einmal sagen, zum Beispiel wie den Schriftsteller David Grossman. Und gleichzeitig befindet man sich damit auch ganz schnell im selben Topf wie die schlimmsten Antisemiten. Es scheint einfach aussichtslos, eine Position einzunehmen, mit der man nicht zwischen allen Stühlen sitzt und sehr einsam ist. Mir hat ein Text der streitbaren Intellektuellen Eva Illouz geholfen. Illouz schreibt: Es sei ja nicht so, dass Israel keine Kriegsverbrechen in Gaza begangen hätte. Doch viele Kritiker machten das Land zum metaphysischen Prinzip des Bösen. Sie weigerten sich, den makabren Tanz zu erkennen, den die Terroristen mit den israelischen Messianisten in der israelischen Regierung aufführen. Ihr Athener Verlag hat Illouz deshalb aus dem Programm genommen. Ilouz streitet weiter. Sie sagt, man solle die spektakuläre Rückkehr des Antisemitismus aus dem Inneren des liberalen Bauchs westlicher Demokratien ernst nehmen, den Anstieg antisemitischer Gewalttaten, die Dämonisierung des Zionismus als kriminelle Ideologie, die Boykottaufrufe gegen Israelis und das alles werde noch dazu eingehüllt in die Behauptung, Antisemitismus existiere gar nicht oder sei noch schlimmer, eine nachvollziehbare Reaktion auf Israels Taten. Auf der rechten Seite sieht Illouz in Israel eine Gesellschaft, die die Toten und Verhungerten nicht wahrhaben will, und eine Regierung, die die Idee eines jüdischen und demokratischen Staates de facto zu Grabe getragen hat. Doch sie sagt: Wir dürfen uns nicht zwischen dem Kampf gegen Antisemitismus und der Kritik an Israel entscheiden. Wir müssen beide Stränge halten, auch wenn dies intellektuell herausfordernder ist und uns zwingt, den bequemen Moralismus und die einfachen Dichotomien aufzugeben. Der Staat Israel sei nicht in Sünde geboren, auch keine bloße Wiedergutmachung für einen Holocaust, auch kein Kolonialprojekt, weil Juden in diesem geografischen Raum immer präsent waren. Und Illouz weiter: Israel entstand rechtmäßig durch die Anerkennung der Vereinten Nationen und wurde im Krieg gegen arabische Armeen erkämpft, die den UN-Beschluss von 1947 ablehnten. Heute leben dort sieben Millionen Juden, die keine andere Heimat haben. Wenn das Wort Gerechtigkeit Bedeutung hat, dann muss es für die Welt moralisches Gebot sein, dem am stärksten verfolgten Volk auf Erden ein friedliches Leben auf einem winzigen Stück Land zu sichern. Und Illouz stellt auch Fragen zum Warum dauert die Staatenlosigkeit der Palästinenser so lange? Welche Rolle spielt Israel dabei? Welche Verantwortung tragen die arabische Welt, die Palästinenser selbst und die internationalen Institutionen für dieses tragische Schicksal? Zu bedenken wäre ihrer Meinung nach auch: Die Hamas hat ihre genozidalen Absichten nie verhehlt und das palästinensische Bildungssystem ist mit antisemitischen Inhalten durchsetzt.
Die Debatte, ob Israel einen Genozid begeht, verschweigt nach ihrer Ansicht, dass die Freilassung der Geiseln den Krieg längst beendet hätte. Und die Hamas wusste, dass Israels Antwort nach dem 7. Oktober brutal ausfallen würde. Doch sie bot ihrer Bevölkerung nicht einmal Schutz in ihren eigenen Tunneln. Ich bitte Sie, bedenken Sie das. Und noch etwas: Alle Informationen, die ich in diesem Podcast verwendet habe und die sicher nicht zugunsten Israels sprechen, stammen aus israelischen Quellen.
Und damit verabschiede ich mich von Ihnen. Bis zum nächsten Mal.
Autor:in:Christa Zöchling |