Die Dunkelkammer
Grell, rasant, gefährlich: Jugendliche auf TikTok & Co

Edith Meinhart, Esim Karakuya, Fabian Reicher (von links) | Fotocredit: Copyright: Christopher Glanzl
  • Edith Meinhart, Esim Karakuya, Fabian Reicher (von links)
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Von Edith Meinhart. Viele Erwachsene haben höchstens eine vage Vorstellung, wie ungeschützt junge Menschen Hetze, Extremismus, Frauenhass und Gewalt auf TikTok und ähnlichen Plattformen ausgesetzt sind. Eșim Karakuyu und Extremismus-Experte Fabian Reicher sind als Online-Jugendarbeiter jeden Tag in einem verstörenden Universum unterwegs, in dem es von spaßigen Pudding-mit-der-Gabel essen-Trends hin zu kriminellen Machenschaften und Kriegstreiberei so gut wie alles gibt. In dieser Folge schildern sie, warum Social Media für Jugendliche zum Leben gehören, was sich gerade abspielt und wie TikTok & Co auch dafür genützt werden können, Geschichten von einer Welt zu erzählen, in der man einander respektvoll begegnet und aufeinander schaut. Davon handelt auch ihr neues Buch "Alternative Held:innenreise. Digital Storytelling von unten."

Edith Meinhart
Im vergangenen Jahr ist einiges passiert, online sowieso, aber auch offline. Esim Karakuya und Fabian Reicher, ihr habt ein Buch geschrieben, gemeinsam mit Christopher Glanzl, das soeben im Mandelbaum Verlag erschienen ist. Es heißt: Alternative Held:innenreise. Digitales Storytelling von unten“ und knüpft insofern an die Folgen 91 und 191 an, als Hörerinnen und Hörer damals zurückgemeldet haben, dass vielen nicht klar gewesen sei, welchen Gefahren ihre Kinder auf Social Media ausgesetzt sind, aber auch, wie sie denn davor zu schützen wären. Wir haben damals befunden: Eigentlich bräuchte es ein Buch, das genau diese Lücke schließt.

Nun habt ihr es geschrieben. Es ist eine Art Handreichung für Erwachsene. Aber nicht nur. Das Buch versteht sich auch als Ermutigung für Jugendliche und Menschen, die mit Jugendlichen arbeiten, sich Hasskampagnen, extremistischer Hetze, Sexismus und Gewaltverherrlichung nicht einfach ungeschützt auszusetzen, sondern anzufangen, selbst Geschichten zu erzählen.

Fabian, Eșim, wir haben vor einem Jahr über den Influencer Mois gesprochen, der eine digitale Hetzkampagne gegen seine Frau Anys losgetreten und sogar Kopfgeld auf sie ausgesetzt hat. Im Gegenzug machte Anys damals in einer mehrteiligen Instagram Serie ihre jahrelange Gewaltbeziehung öffentlich. Das löste eine Debatte über toxische Männlichkeit und öffentliche Gewalt aus, die seither immer wieder auflodert.
Was ist denn der Stand der Dinge in der Causa Mois?

Eșim Karakuyu
Die Geschichte ging noch ziemlich lange weiter, weil Mois sich bis heute unglaublich viele Identitäten angeeignet hat. Er ist von Monkey D Ruffy und One Piece zu Joker geworden, hat sich Gesichtstattoos mit dem Joker Lächeln und unterschiedliche andere Tattoos stechen lassen, war in der Schweiz, ist dort viel in der Casino Szene unterwegs gewesen, ist dann in Deutschland in einem kleinen Vorort gelandet, in dem er sich neue Freunde genommen und exzessiv Drogen konsumiert hat – und das natürlich alles live vor der TikTok Kamera. Sobald ein Account von ihm gesperrt wurde, hat er einfach einen neuen aufgezogen.
Seine Ex-Frau Anys hat mit den Kids ein neues Leben gegründet, hat sich ein bisschen als Lifestyle-Influencerin aufgebaut, während er immer weiter abgestürzt ist, bis er vor Kurzem von den Freunden in die Psychiatrie eingewiesen worden ist. Interessanterweise hat er auch von der Psychiatrie heraus TikTok Livestreams gemacht, hat dort die Leute und das Essen bewertet. Dann ist er abgehauen. Seine Brüder, über die wir auch das letzte Mal gesprochen haben, haben sich daraufhin eingeschaltet und wollten, dass er in der Psychiatrie bleibt, weil er ganz dringend Hilfe braucht.
Man ist davon ausgegangen, dass er selbstgefährdend ist. Man hatte Angst, dass er sich suizidiert. Und dann ist er erneut in der Psychiatrie gewesen, bis vor Kurzem noch. Man hat gemerkt, okay, jetzt hat er einen Entzug durchgemacht, natürlich alles auch TikTok live gestreamt. Man hat es an seinem Aussehen gesehen, er konnte wieder normal sprechen, er hatte wieder Farbe im Gesicht. Seit ein paar Tagen ist er bei einem seiner Brüder untergekommen und versucht nach eigenen Aussagen ein neues Leben aufzubauen.

Fabian Reicher
Das Ganze auch live auf TikTok. Er streamt jetzt wieder seinen Weg von ganz unten nach ganz oben, versucht also, diese klassische Underdog Erfolgsgeschichte erneut zu erzählen, die auf Social Media dominiert. Vielleicht noch zwei Ergänzungen: Das Krasse war, dass er immer wieder bei Leuten untergekommen ist, die es im Endeffekt nicht gut mit ihm gemeint haben. Es wurde unter anderem sein Selbstmordversuch, wo er irgendwo am Dach gewesen ist und die Polizei kommen musste, live gestreamt. Das große Problem ist natürlich, dass er nicht losgekommen ist von seinem Handy. Irgendwer hätte es ihm wegnehmen müssen oder das Gericht hätte ihm ein Social Media Verbot geben müssen, damit er runterkommt. Er ist halt immer wieder auf Klicks geil. Das merkt man an seinen Aussagen. So hat er zum Beispiel in der Psychiatrie in einem Livestream gesagt, das Essen in der Psychiatrie schmecke besser als das von Anys. Sie ist immer noch sein Hassobjekt. Das ist eine ganz unschöne Sache. Mittlerweile gab es viele Leaks von anderen, wo herausgekommen ist, dass er nie der Mensch war, der er vorgegeben hat zu sein, dass er im Endeffekt unheimlich geil auf Aufmerksamkeit ist, auf Anerkennung. Das bringt uns zu Social Media grundsätzlich. Vieles hier ist natürlich mehr Schein als Sein.

Edith Meinhart
Wie viele Menschen haben diesen quasi öffentlichen Zusammenbruch eines Menschen verfolgt?

Eșim Karakuyu
Das war auf jeden Fall ein Trending Topic, also ein Thema, das durch ganz Social Media ging. Alle Jugendlichen wussten Bescheid, wer Mois ist, wer Anys ist, wer die Nebenfiguren und Protagonistinnen sind. Seine Reichweite hat natürlich mit der Zeit abgenommen, dadurch, dass er oft gesperrt und wieder aufgenommen worden ist. Aber dadurch, dass er ständig präsent ist und versucht, auch mit anderen Sachen Klicks zu erzeugen und wieder auf die For You-Page zu kommen, ist das immer wieder mal Thema. Wenn man zum Beispiel bei Anys, die jetzt als Influencerin Geld verdient, in die Kommentare geht, dass immer noch Bezug auf seine Erzählung über sie Bezug genommen wird. Wir merken auch, dass viele große Akteur:innen auf Social Media und Podcaster:innen die Geschichte von ihm erzählen, von den Ursprüngen, wo selbst ich ihn nicht kannte, bis heute. Sie decken auch auf, dass diese Erzählung, dass er so ein toller Mensch war, seine Frau hat ihn betrogen hat und er daraufhin abgestürzt ist, nicht haltbar ist.

Edith Meinhart
Ihr habt als Jugendarbeiter:innen viel mit dem Thema Mois zu tun gehabt, weil ihr mit den Jugendlichen darüber reden wolltet beziehungsweise musstet.

Eșim Karakuyu
Insofern, als die Jugendlichen darüber gesprochen haben; damit es Menschen gibt, alternativ zur Social Media-Welt, die mit ihnen über diese Thematiken sprechen, ohne den erhobenen Zeigefinger, ohne moralisch zu werden, die einfach fragen: Was interessiert euch an dieser Geschichte? Was ist für euren Alltag wichtig? In diesem Rahmen haben wir darüber mit den Kids gesprochen.

Fabian Reicher
Mois ist sicher das größte Social Media Thema der 2020er-Jahre; davor, in den 10er- Jahre war es der Social Media-Downfall vom Drachenlord, der mittlerweile in unzähligen Formaten auch vom Mainstream aufbereitet wurde. Das passiert eben auch mit Mois. Öffentlich-rechtliche Sender greifen das Thema auf, Podcasts werden produziert und so weiter. Wenn es ein Phänomen aus den Kommentarspalten raus schafft, kommt irgendwann auch der Mainstream drauf, allerdings meist viel zu spät, um mit den Jugendlichen darüber zu sprechen. 

Edith Meinhart
Wie ist TikTok Teil der Welt der Jugendlichen geworden und was geht hier gerade vor, das in ein paar Jahren den Mainstream beschäftigen wird?

Fabian Reicher
Irrsinnig viel. Vielleicht ganz grundsätzlich: Social Media erlebt eine Evolution. Es begann mit Facebook, dann kam Instagram. Am Anfang ist alles rough und wild. Es gibt noch wenig Formate, die Bestand haben und es gibt immer ein Alleinstellungsmerkmal. Das ändert sich nach und nach. Sobald eine Plattform groß wird, kommen die großen Firmen drauf, schalten Werbung, dadurch verändert sich der Content, er wird professioneller. Dann schauen Journalist:innen drauf, schreiben alarmistische Beiträge, wie gefährlich das ist. In der Phase sind wir gerade bei TikTok. Irgendwann kommen dann die normalen Erwachsenen. Und dann wird es für Kids wirklich unattraktiv, spätestens dann, wenn die Lehrerinnen und Lehrer, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiterinnen kommen und die eigenen Eltern. Wer will schon eine Freundschaftsanfrage der Eltern bekommen?
Social Media ist für Jugendliche spannend, weil es ein bisschen ein von Pädagogisierungen freier Raum ist, den es in der Offline Welt kaum mehr gibt, zumindest in urbanen Gegenden wie Wien. Was ist passiert auf TikTok? Das gab es zum einen den Trend zum Kurzvideo, den mittlerweile alle Plattformen übernommen haben. Auf Instagram und Facebook heißen sie Reels, auf YouTube sind das YouTube Shorts. Das Zweite war diese algorithmusgesteuerte For You-Page, auf die man vom Algorithmus das, was dem, was man schaut, am nächsten ist, gespielt bekommt. Man kann sich da stundenlang durch eine Masse von Videos scrollen. Und daraus hervorzustechen, ist es wichtig, den Algorithmus zu kennen. Und der ist das dritte Alleinstellungsmerkmal. Es ist auf Plattformen wie Facebook, Instagram oder YouTube nicht mehr möglich, organisch erfolgreich zu werden, also selbst mit Videos viral zu gehen, außer man hat den Content seines Lebens, aber das passiert halt nur einmal im Leben.
Auf TikTok ist es hingegen immer noch möglich, weil der Algorithmus die Watchtime präferiert. Wenn ich einen Inhalt hochlade, schaut sich der Algorithmus an, für wen er geeignet ist, indem er einer kleinen Versuchsgruppe vorgespielt wird, das sind 10 bis 100 Leute. Es wirkt wie ein umgekehrter Trichter: Wenn am Anfang 10 Leute den Content bis zum Ende schauen, wird er 100 Leute vorgeschlagen, dann 1000 und so weiter. So kann ich tatsächlich viral gehen, ohne viele Follower zu haben, ohne großes Werbebudget, ohne professionelles Studio. Das heißt, die Produktionsmittel sind in unser aller Händen, mit dem Handy, das wir jeden Tag zu jeder Zeit mit uns haben.

Edith Meinhart
Welche Geschichten spielen sich derzeit unter dem Radar der Erwachsenen ab, quasi in Nachfolge der Mois-Geschichte?

Fabian Reicher
Ein ziemlich nicer Trend ist der Pudding mit Gabel-Trend, wo es einfach darum geht, dass Jugendliche einen Pudding mit Gabel essen und sich dafür an irgendwelchen Orten zusammenfinden, im Stadtpark oder am Stephansplatz. Da ist zum Beispiel der ORF schnell darauf aufmerksam worden. Was mir am Wochenende noch aufgefallen ist: Es gibt gerade einen Beef unter Trainspotter, also Leuten, die Züge filmen, weil manche es übertreiben und mit Lichthupen die Lokführer so nerven, dass es sogar Polizeieinsätze gab. Es gibt ganz viele, unterschiedliche Nischen, Jugendkulturen und Subkulturen, die irrsinnig spannend zu entdecken sind.

Eșim Karakuyu
Zusätzlich werden immer wieder alltägliche Themen auf TikTok sichtbar. Wir haben gemerkt, dass für die Jugendlichen TikTok eine Suchmaschine ist. Bücher sind schon lange out, aber auch Googeln ist vorbei. Ich schaue in der TikTok Suchleiste nach. Die Jugendlichen sind tagtäglich mit allen möglichen Bildern konfrontiert, aus Kriegen, aus Beefs, mit einem Gemisch aus Normalität und Extremen, die alle ins Kinderzimmer reingehen. Man fühlt sich mit alledem konfrontiert, hat aber wenig Raum, es zu besprechen.

Fabian Reicher
Auf TikTok, wo alles schneller, flüchtiger ist, wo man in einem endlosen Strom sich ewig durchscrollen kann, ist natürlich alles zugespitzter. Aber im Endeffekt ist es ein Spiegel der realen Welt und alles, Krieg, irgendwelche autoritären Machthaber, die komplett durchdrehen scheinbar, das passiert auch dort.

Edith Meinhart
Die Spannweite zwischen der krassen Geschichte von Mois und dem Pudding Gabel Trend zeigt auf, dass Social Media per se nicht schlecht sind, für die Online -Jugendarbeit sogar eine Chance sein können. Ich würde gerne vorher noch das Gefahrenpotenzial ausloten. Stichwort Manosphere. Was ist darunter zu verstehen? Warum ist das gefährlich? Was macht das mit Jugendlichen?

Eșim Karakuyu
Fabian hat darüber gesprochen, dass einem auf die For You Page gespielt wird, wovon der Algorithmus denkt, dass es einen interessieren könnte. Wenn man sich zum Beispiel als junger weißer Mann aus Mitteleuropa auf TikTok registriert, dauert es nicht lange, bis irgendwelche Männer-Coaches und zum Teil auch rechte Akteur:innen hier landen. Manosphere ist von einem patriarchalen Bild der Welt geprägt, hier finden sich Personen wie Andrew Tate, ein Mann, der damit Karriere gemacht hat, anderen Männern zu sagen, wie sie erfolgreich werden, wie sie Frauen zu behandeln haben. Es geht darum, der Alpha zu sein, der Anführer, derjenige, der das Sagen hat. Das betrifft nicht nur die Karriere, sondern alles, was im Leben relevant ist: Deine Beziehung, deine Bekanntschaften, dein Umgang mit anderen auf der Welt. Es geht darum, ganz viel Geld zu machen, ganz viele Muskeln, also um ein Männerbild, das festgeschriebenen Rollen entspricht. Und um die Erzählung: Ich bin von ganz unten gekommen und jetzt bin ich ganz oben, ich habe Millionen auf dem Konto, ich habe einen tollen Körper. Ich brauche nicht irgendwelchen Frauen hinterher zu rennen, sondern alle wollen mich. Damit schaffen sie Angebote für junge Männer, die wahrscheinlich in einer sehr vulnerablen Phase sind, Jugendliche, die nicht wissen, wohin mit sich selbst; Angebote, indem sie sagen: Wenn du in mein Coaching kommst, wenn du das machst, was ich dir sage, wenn du mir folgst, wirst du einer von denen.
Das Interessante an der Manosphere ist, dass sie Frauen inkludiert. Das Männerbild entsteht in Abgrenzung oder in Verbindung zum Frauenbild, je nachdem. Ich spreche von Mann und Frau, weil es weder etwas dazwischen noch darüber hinaus gibt. Bei den Frauen ist zum Beispiel der Trad Wife Trend in den Fokus gerückt, der aus den USA kommt, aus christlich fundamentalistischen Kreisen eigentlich, und die klassischen Rollen der Ursprungsfamilie zum Kern hat, also Mama, Papa, Kind: Der Vater ist der Versorger und Beschützer nach außen hin. Die Frau ist zu Hause, erzieht die Kinder, macht das, was Frauen zuhause zu machen haben, ist dem Mann dienlich und unterliegt ihm. Und dieser Trend ist in den deutschsprachigen Raum übergeschwappt, kann sich hier natürlich nicht so krass halten. Nicht jeder hier kann sich einen Bauernhof und sechs Kinder leisten.
Aber es Variationen wie zum Beispiel die Clean Girls, die mit einem ästhetisierten, neoliberalen Touch ähnliche Züge haben. Sie sagen, wir sind sehr clean, alles ist sehr clean, wir sind leise, wir sind dem Mann unterlegen. Das Ziel ist es, einen grossverdienenden Mann zu heiraten und eine Stay at home-Wife zu werden. Was ich daran besorgniserregend finde, sind diese unglaublich vielen, teuren Coaching Angebote, sowohl für Frauen als auch Männer. Das Versprechen lautet: Ich zeige dir, wie du ein Alpha wirst, wie alle Frauen hinter dir herlaufen, wie du extrem viel Geld verdienst. Und für Frauen: Ich zeige dir, wie du in deine feminine Energie kommst, in deine göttliche Energie, wie du eine gute Mutter und Ehefrau wirst.
Es spricht nichts dagegen, zu Hause zu bleiben und Kinder zu erziehen. Feminismus heißt, die Wahl zu haben. Aber wenn Trad Wife sein bedeutet, finanziell abhängig zu sein, weil der Mann für das Einkommen sorgt und davon auszugehen, dass man sich nie trennen wird und die Frau auf die Gutmütigkeit des Mannes angewiesen ist, haben wir da eine Riesenproblemaik.

Edith Meinhart
Du hast das sehr elegant und neutral geschildert. Tatsächlich gibt es in dieser Sphäre sehr viel Frauenhass, offene Aufrufe zu Gewalt. Wie schnell schlägt einem das alles entgegen?

Fabian Reicher
Weilman sich diese Manosphere oft wie ein zusammenhängendes Netzwerk vorstellt: Dem ist nicht so. Es gibt für alles, für alle möglichen Plattformen, von YouTube und stundenlangen Podcasts über Kryptos und TikTok, wo sich Männer im Wald anschreien, bis zu harten antifeministischen und frauenfeindlichen Inhalten. Was die Anziehungskraft ausmacht, ist auch die sogenannte Red Pill Ideologie. Du kennst sicher den Film „Die Matrix“, diese krasse Szene, wo der Morpheus dem Neo, der bis dahin ein eher langweiliges Leben führt, aber merkt, irgendwas stimmt nicht mit der Welt, die rote und die blaue Pille anbietet. Er nimmt die rote, erkennt die Wahrheit und bekämpft die Matrix. Es gibt auch kein Zurück mehr in dieses bequeme Leben, sondern es geht quasi um alles.
Das ist die Metapher, die Andrew Tate und die meisten anderen Manfluencer, wie man sie nennt, übernommen haben: das Entkommen aus der Matrix. Im Film ist die Matrix ein Synonym für die Zweigeschlechtlichkeit. Lana und Lilly Wachowski, die Macherinnen, haben hier ihre Transidentität verarbeitet. Die rote Pille steht für die tatsächlich rote Pille, die Männer bei der Transition nehmen mussten. Für Andrew Tate und die Manfluencer steht sie für das Erkennen, dass der Feminismus schuld an allem Übel ist, vor allem an ihrem eigenen, Schuld am eigenen Misserfolg. Das macht die Geschichte irrsinnig anziehend für junge Männer, die ähnliche Erfahrungen machen.

Eșim Karakuyu
Es ist immer davon die Rede, dass der Feminismus dazu geführt hat, dass man weder Mann noch Frau ist und niemand mehr weiß, was Sache ist. Wenn wir alle, so die Erzählung, zu unseren ursprünglichen Rollen zurückkehren, gibt es keine Depressionen, keine überarbeiteten Männer und Frauen, keine Streitigkeiten in der Beziehung, keine Scheidungen und so weiter. Alles wäre gelöst. Das ist unglaublich anknüpfungsfähig bei jungen Menschen, die in einer vulnerablen Phase sind, die sich die fragen, was es bedeutet, ein Mann oder eine Frau zu sein. Mit 14, 15, 16 stellt man sich diese Frage. Vielleicht hat man die erste Beziehung und keine Antworten, beziehungsweise, unglaublich viele Antworten, aus denen man keine herausfiltern kann.

Edith Meinhart
Es geht nicht nur darum, dass ein Mann ein Mann sein soll und eine Frau eine Frau, sondern aus dem Mannsein leitet sich der Anspruch ab, über Frauen zu bestimmen, als wären sie Besitztümer.

Eșim Karakuyu
Auf jeden Fall. In dieser Erzählung ist völlig klar, dass die Frau dem Mann unterlegen ist und es Aufgabe der Frau ist, dem Mann zu dienen. Wir haben im Buch eine Person beschrieben, die in ihrer Küche ist und mit hauchiger Stimme darüber spricht, dass sein Mann, dass ihr Mann sich irgendwas zu essen gewünscht hat und sie ihm sofort gesagt hat: „Natürlich, llehn dich zurück, ich mache dir das.“ Sie ist natürlich perfekt angezogen, hat die perfekte Haut, die perfekten Haare, die perfekte Kleidung, die perfekten Küche. Das Bild vermittelt, wohin man kommt, wenn man dem Mann den Rücken frei macht, so erfolgreich zu sein, dass man sich das alles leisten kann.

Fabian Reicher
Spannend finde ich, dass bei so gut wie allen die Ideologie kein Selbstzweck ist, sondern eine Möglichkeit, um jungen Männern etwas zu verkaufen. Die Videos diverser Manfluencer enden meistens damit: Mit dem Link in der Bio kommst du zu meinem Shop; da kriegst du Supplements oder irgendwelche Coaching Programme, damit du so erfolgreich wirst wie ich. Tatsächlich schaffen diese Manfluencer eine neue Matrix für junge Männer, indem sie die Probleme in der realen Welt vergrößern, statt daran zu arbeiten. Das ist eines der großen Probleme.

Edith Meinhart
TikTok ist auch eine Aufmarschzone für Prediger aller Art, von denen viele keine edlen, guten Werte verbreiten, sondern zu Hass, Verachtung und Gewalt anstacheln. Welche Strömungen fallen euch da gerade auf?

Fabian Reicher
Wir beschreiben im Buch, wie Onlineradikalisierung funktioniert. TikTok ist in den vergangenen zwei Jahren stark in den Fokus geraten. Mit Schlagzeilen von irgendwelchen Terrorteenies, die über TikTok innerhalb von Monaten dazu gebracht werden, Anschläge für den sogenannten Islamischen Staat zu begehen. Ohne TikTok verteidigen zu wollen, muss man einiges richtig stellen: Der sogenannte Islamische Staat kann – im Unterschied zu vor zehn Jahren - nur sehr wenig direkt auf TikTok ausspielen. Mittlerweile gibt es automatisierte Algorithmen, die das verhindern.
Der sogenannte Islamische Staat spielt sich vor allem in Telegram Kanälen, wo es riesige Onlinebibliotheken gibt, die von Anhängern dort gefunden, konsumiert, diskutiert werden - und des Öfteren natürlich auf den Handys von Jugendlichen landen. Oft geht es dann auch darum, als selbsternannter Propagandist die Inhalte als Do it yourself-Propaganda-Videos zum Beispiel wieder auf TikTok zu stellen. Allerdings werden sie dort relativ schnell gelöscht, vom Verfassungsschutz entdeckt, und dann ist man schnell von polizeilicher Repression betroffen und landet wegen Propagandadelikten vor Gericht.
Was auf TikTok sehr stark ist, sind sogenannte Influencer-Preacher. Sehr bekannt ist Sheikh Ibrahim, auch Abdel Hamid, über den wir noch reden wollen, die wirklich sehr reaktionäre, exkludierende, problematische Inhalte verbreiten. Allerdings distanzieren sie sich zum Teil bewusst vom sogenannten Islamischen Staat. Direkte Aufrufe zu Gewalt hört man von dieser Ecke selten bis gar nicht.

Edith Meinhart
Ist es nicht so, dass durch die schärfere Verfolgung von IS-Inhalten die Radikalisierung raffinierter geworden ist?

Fabian Reicher
Vieles auf Social Media, ob Manosphere, rechtsextreme Online-Strategien oder islamistischer Extremismus, passiert informell, ohne Kommandostruktur. Man darf sich das nicht so top down vorstellen, wenn man hört, dass jemand als Mitglied einer terroristischen Vereinigung verurteilt wurde. Die wenigsten hatten einen reellen Kontakt zu einer Kommandostruktur. Das sind oft Menschen, die das in die Hand nehmen, selbst Propaganda und im schlimmsten Fall Terroranschläge begehen. Das war vor zehn Jahren tatsächlich anders.

Edith Meinhart
Was macht die genannten Prediger so erfolgreich und gefährlich?

Eșim Karakuyu
Ich beginne mal mit Sheik Ibrahim, der im deutschsprachigen Raum dadurch bekannt geworden ist, dass er alle Fragen von Jugendlichen in einem gefühlt maximal 10 Sekunden-Video beantwortet hat, oft mit Ja, nein, darf man nicht, darf man doch. Dadurch ist Einfachheit in schwierige Fragen gekommen. Jugendliche wollen sich nicht ewig damit auseinandersetzen, welche unterschiedlichen Meinungen es gibt. Sie wollen einen fragen, der ihnen sagt, was richtig und falsch ist. Und er hat alle Fragen beantwortet, bis hin zu kann ich im Paradies dann ein Super-Saiyajin werden? Oder: Kann ich auf Fortnite zum Islam konvertieren? Er hat nicht gesagt: Was sind das für dumme Fragen?, sondern hat gesagt: Nein, im Paradies könnt ihr keine Super-Saiyajin werden. Nein, auf Fortnite könnt ihr nicht konvertieren.

Edith Meinhart
Kannst du das übersetzen?

Eșim Karakuyu
Ein Super-Saiyajin ist ein Anime aus meiner Kindheit, das Außerirdische beschreibt, die auf die Erde gekommen sind, weil ihr Planet zerstört worden ist. Sie können durch ihre eigene Kraft immer stärker werden und haben die Welt beschützt. Son-Goku ist der Hauptprotagonis. Es gibt viele Feinde, und man versucht immer, gut zu werden. Als Kind und Jugendlicher will halt ein Super-Saiyajin sein, wenn du die Erfahrung gemacht hast, ausgegrenzt zu sein, keine Heimat zu haben, keinen Schutz mehr zu haben. Son-Goku hat zum Beispiel keine Eltern, aber einen Meister, der ihn bei der Hand nimmt und ihm das Kämpfen und die Verteidigung der Welt beibringt. So findest du einen Sinn im Leben, weil du deine Kräfte, die du nicht mehr in deinem Ursprungsleben anwenden kannst, auf der Erde anwenden kannst, um die Menschen zu beschützen. Eigentlich ist eine schöne Geschichte.

Edith Meinhart
Folgen die Antworten der Prediger einer ideologischen Agenda?

Fabian Reicher
Das Problematische ist, es sind auf jeden Fall sehr reaktionäre bis extremistische Positionen. Die wenigsten dieser Onlineprediger haben eine theologische Ausbildung. Aber gerade diese einfachen Antworten, die sich von unserer Gesellschaft, aber auch anderen Religionen abgrenzen, bieten eine andere Erzählung. Diese islamistische Jugend-Subkultur, ist in den letzten Jahren groß geworden, weil der Islam oder Musliminnen für Medien und leider auch staatliche Stellen oft ein Feindbild geworden sind und viele Gesetze sich direkt auf diese Gruppe beziehen. Jüngstes Beispiel ist das sogenannte Kopftuchverbot, das von der Regierung wieder beschlossen wurde und höchstwahrscheinlich oder hoffentlich vom Verfassungsgerichtshof wieder aufgrund des Gleichheitsgrundsatzes aufgehoben wird, wie schon vor ein paar Jahren.
Für die Jugendlichen ist klar, das richtet sich gegen Musliminnen; es steht nicht der Schutz von jungen Mädchen, wie vorgegeben wird, im Fokus. Sie erkennen die populistische Absicht dahinter. Das macht diese Prediger so erfolgreich, weil sie am besten diese Underdog Story vermitteln, von der wir schon gesprochen haben. Wenn du heute bei den Ausgegrenzten dabei sein willst, ist der Islam das beste, spannendste Angebot. Darum konvertieren so viele Jugendliche. Und die Onlineprediger machen es ihnen sehr einfach. Wenn du in klassischen Moscheen konvertieren willst, werden natürlich die Eltern eingebunden, wird geschaut, ob du die richtigen Gründe dafür hast, ob das nicht eine überhastete Entscheidung ist. Bei diesen Onlinepredigern kannst du einfach im TikTok-Livestream konvertieren, indem du das Glaubensbekenntnis sprichst. Und dann bist du bei den Außenseitern dabei, bei den Underdogs. Und je mehr Medien diese Geschichte vom angeblichen Kampf der Kulturen mit dem Feindbild Islam verbreiten, desto attraktiver wird es.

Edith Meinhart
Das heißt, diese Prediger würden ein Gesetzesvorhaben wie Kopftuchverbot aufgreifen und in ihre Ungleichheitsideologie einbauen – ihr seid die wahren Muslime, ihr seid viel besser als der Rest der Gesellschaft -, um sie vom Rest der Gesellschaft zu entfernen?

Fabian Reicher
Hundertprozentig. Nicht, sie würden das machen, sondern das machen sie. Die ganze Zeit. Genau das macht ihren Erfolg aus. Ihre Reichweite ist so groß, vor allem auf TikTok, dass ihre Thesen, auch wenn sie im Islam eine kleine, minimale Strömung sind, unhinterfragt weiterverbreitet werden und Jugendliche, die TikTok als Suchmaschine verwenden, mit religiösen Fragen bei denen landen. Natürlich wird das alles auch von Journalist:innen unhinterfragt quasi reproduziert. Wenn sie in Büchern als „ Allahs mächtige Influencer“ beschrieben werden, als würden sie für den Islam sprechen.
Um noch einen Prediger einzuführen: Abdel Hamid wurde im Sommer schuldig gesprochen wurde, weil er Geld für Palästina in Livestreams gesammelt hat, für arme Menschen im Kosovo und rausgekommen ist, dass er das meiste Geld in die eigene Tasche gesteckt hat, für Luxusuhren, Autos. Spannend war, das Gerichtsurteil ist gefällt worden, Medien haben darüber berichtet, und auf TikTok haben die Kids gepostet: „ Na, das glauben wir nicht. Die Medien und der Staat sind immer gegen den Islam und wollen uns nur schlecht dastehen lassen.“ Da müsste man halt schon hinterfragen: Warum ist das so?
Es war dann so, dass Abdel Hamid in ein YouTube Format von Yassi Arafat gegangen ist, ehemaliger Manager von Bushido, der mittlerweile viel auf TikTok unterwegs ist. Mit ihm hat er einen zweieinhalb Stunden Podcast gemacht, was sein großer Fehler war, denn hier hat er sich tausendmal verredet, so sind die Leute zum Glück selbst draufgekommen.

Edith Meinhart
Das führt in die nächste extremistische Zone. Wir haben über Islamisten gesprochen. Wie schaut es mit Rechtsextremen auf TikTok aus?

Eșim Karakuyu
Ich würde sagen, die rechte Szene war eigentlich wie auch die anderen extremistischen Gruppierungen schnell auf Social Media unterwegs, haben relativ schnell TikTok für sich entdeckt, um ihre Meinungen und ihre Haltungen zu verbreiten. Man hat das während der Wahlen in Deutschland gesehen, bis auch andere Parteien draufgekommen sind: „Oh, da gibt es etwas wie TikTok, wo wir vielleicht unsere Sachen machen sollten.“ Was auffällt ist, dass auch Frauen sehr früh sehr präsent waren, die Narrative, es gehe um den Schutz der Frauen. Rechte Gruppierung sind sehr konservativ. Dazu gehört die Erzählung, dass ie Frauen an den Herd drängen. Dann kamen die Gegennarrative, warum Frauen rechts wählen oder in rechten Gruppen aktiv sind. Wir haben gemerkt, dass Frauen andere Rolle einnehmen, sich Sprechmächtigkeit aneignen, indem sie ideologischen Bilder davon, wie sie leben sollen und rassistische Diskurse aufnehmen, um zu erklären, warum diese rechten Gruppierungen das Richtige sind.

Fabian Reicher

Rechtsextreme Akteure sind tatsächlich als erste draufgekommen, dass es Social Media gibt, wie man sie nutzen kann und wie sie funktionieren. Das unterscheidet sie immer noch stark von progressiven Akteuren. Der Aufstieg von Donald Trump zeigt, welche Kraft Social Media hat. Wir erinnern uns an das Jahr 2015, wo er bekannt gegeben hat, dass er Präsident werden will. Damals hat ihn keiner für voll genommen. Er wurde parodiert, getrollt, wie man in der Internetsprache sagt, auf Chan, einem Imageboard, in dem sich viel Online-Jugendsubkultur abspielt, es geht hier um schwarzen Humor, böse Witze, ums Provozieren natürlich auch.Trump ist irgendwann draufgekommen, das macht ihn größer, verschafft ihm mehr Reichweite und hat angefangen, eigene Memes zu posten. Das ist das große Ding, dass Trump wie auch viele Vertreterinnen der Altright, die für seinen Erfolg mitverantwortlich waren, verstanden haben, dass das Internet auch ein Ort der Meinungsbildung ist. Und was da natürlich sehr gut funktioniert, ist: provozieren, ballern, also raushauen, raushauen, raushauen. Während progressive Kräfte alles zerdenken - Kann ich das sagen? Kann ich das raushauen? Da könnte ich doch kritisiert werden, da könnte ein Shitstorm kommen -, ballern die Rechtsextremen drauflos und überfluten das Internet mit ihrer Geschichte vom sogenannten Kampf der Kulturen, davon, dass es kein friedliches Zusammenleben zwischen Musliminnen und Nicht Musliminnen geben kann, von irgendeiner dunklen Macht im Hintergrund, meist in der Person von George Soros, um den Antisemitismus auch noch reinzubringen, der die Migrationsströme lenkt, um Europa, um die weiße Kultur zu zerstören und so weiter.
Zu Beginn von Social Media mussten sie ihre Geschichte noch in Codes packen. Weißt du zum Beispiel, was eine Holztüre bedeutet? Also, eine Holztüre ist ein antisemitischer Code und steht für Holocaust Leugnung, weil es auf diesem Imageboard Chan einen Thread gab, wo eine Holztür von einem KZ als Beweisk reingepostet wurde, dass es Gaskammern nie gegeben haben kann, weil eine Holztür nicht dicht ist. Im gleichen Thread wurde aufgeklärt, dass dieses Foto aufgenommen wurde, als das KZ schon zum Luftschutzbunker umgebaut worden war. Das war gegen Ende des Krieges. Trotzdem setzte sich dieses Symbol durch. Und mit diesen Codes arbeiten rechtsextreme Akteure in den Kommentarspalten, um sich gegenseitig zu bestärken und Gegner:innen zu trollen. Migrantinnen, Transpersonen, die LGBTQI Bewegung, aber auch linke, progressive Akteure, die meistens als woke Clowns bezeichnet werden, sind gerade das große Feindbild. Es geht darum, mit dieser Flut an Inhalten die Hegemonie zu erreichen, um von Social Media aus die Welt zu erobern. Leider ist in den letzten Jahren sehr erfolgreich gewesen.

Edith Meinhart
Ihr setzt stark auf Storytelling, das tun aber auch ruchlose Geschäftemacher oder Kriegstreiber und Verhetzer. Was ist der Unterschied zwischen Propaganda und einer guten Geschichte?

Fabian Reicher
Sehr gute Frage. Im ersten Teil unseres Buches beschreiben wir, welche Geschichten in den unterschiedlichen Sphären des Internets funktionieren. Egal ob es um Islamisten, Rechtsextreme, diverse Manfluencer oder andere reaktionäre Akteure geht: Es ist immer diese Underdog Geschichte, eine Analogie zu David gegen Goliath, so wie Andrew Tate, der gegen den übermächtigen Gegner Feminismus kämpft. Oder eben Trump, der gegen das politische Establishment, gegen die scheinbar linke Meinungsherrschaft kämpft. Oder Elon Musk. Diese Geschichte ist natürlich konstruiert und verlogen. Musk verschweigt zum Beispiel die reichen Eltern, die er gehabt hat und seine Herkunft, genauso wie Trump.
Diese Geschichten funktionieren nur, weil sie Manipulationsstrategien verwenden, etwa Clickbaiting. Es werden reißerische Titel verwendet. Auch Thumbnails, das erste erscheinende Bild bei Videos, oder die Hooks, der erste Teil von Kurzclips, sind meistens extrem zugespitzt und abwertend. Sie arbeiten mit dem Prinzip des Cherry Picking. Inhalte, die Argumente für die Geschichte liefern, werden überbetont und andere ausgelassen. Das unterscheidet Propaganda von einer guten Geschichte, die nicht versucht, Leute zu manipulieren, sondern unterschiedliche Perspektiven und Möglichkeiten aufzeigt. Das ist der große Unterschied.

Eșim Karakuyu
Der Punkt in einer guten Geschichte ist auch, dass sie von denjenigen erzählt werden, die betroffen sind. Nicht im Sinne von: Ich gebe dir jetzt die Bühne, weil du gerade nützlich für mich bist, für meine Agenda oder meine Institution. Sondern wirklich aus einer Biografie heraus, aus einem Erleben, einem Fühlen heraus, vor allem junge Menschen ihre Geschichten erzählen können, weil sie die besten Geschichten haben und damit auch Anknüpfungspunkte bei anderen Menschen, die sich damit identifizieren, repräsentiert fühlen, ohne dass man irgendwie, wie Fabian beschrieben hat, Manipulationsstrategien anwendet. Es werden die eigenen Held:innengeschichten erzählt, als Alternative zu den vorherrschenden.

Edith Meinhart
Ich finde, die Grenzen sind fließend. Mois hat auch seine eigene Geschichte erzählt, und gleichzeitig ein Geschäft daraus gemacht. Bei aller berechtigten Kritik an Social Media gibt es tatsächlich Kampagnen, die etwas Gutes anstoßen, eine Lücke in der Berichterstattung füllen oder eine neue Sicht auf die Welt zeigen.

Fabian Reicher
Du hast vollkommen recht, eine gute Geschichte steht für sich, gibt den Menschen etwas und versucht nicht, ihnen etwas zu verkaufen. Es wurde noch nie so viel über Storytelling und Gegennarrative gesprochen wie heute. Es gibt tausende Bücher, die dir erklären, wie du mit Geschichten verkaufen und andere überzeugen kannst. Das zeigt auch, dass wir in einer Krise des Erzählens sind. Als man noch wirklich viele Geschichten erzählt hat, wurde nicht so viel darüber geredet, wie das funktioniert. Wenn ich auf Social Media bin, denke ich mir immer, okay, was will mir der jetzt verkaufen? Wir wollen Menschen nichts verkaufen. Wir wollen, dass sie eine neue Perspektive bekommen. Wir wollen, dass sie sich aufgrund unserer Geschichte, vielleicht auch indem sie Kritik daran üben, ihre eigene Meinung bilden. Das ist ganz wichtig.

Edith Meinhart
Mit einem systemtheoretischen Blick könnte man sagen: Eine gute Geschichte erhöht die Zahl der Optionen statt sie zu verringern, wie zum Beispiel bei einem Prediger, der eine einzige Antwort kennt, statt die Jugendlichen zu bestärken, mit Widersprüchen und Zweifeln, die zum Leben gehören, umzugehen. Vielleicht sogar lustvoll, weil der Raum der Unsicherheit das ist, wo man die eigenen Antworten findet und die eigenen Geschichten.

Eșim Karakuyu
Es hört sich so an, als wäre Social Media ein Sammelsurium an problematischen Menschen und problematischen Inhalten. Es liegt darin auch eine Chance. Früher hatten die großen Medienhäuser das Sagen. Es gab wenig Alternativen. In diese Medienhäuser hineinzukommen war schwer. Es war eine Frage der Klasse, wer dort berichten kann. Heute kann man mit einem Handy und einer Internetverbindung ein Video nach dem anderen posten und seine Perspektive auf die Welt den Leuten zur Verfügung setllen, auch in Kriegsgebieten, wo klassische Medien gar nicht mehr reinkommen.
Wir sehen das am Beispiel von Bisan in Gaza. Sie hat nach dem 7. Oktober 23 angefangen, aus Gaza zu berichten. Die Filmemacherin ist Mitte 20 und meiner Meinung nach der weltweit bekannteste Hook: „It's Bisan from Gaza and I'm still alive.“ So fängt sie ihre Videos immer an, und dann beschreibt aus dem Gazastreifen heraus, was aus der Perspektive der Palästinenser dort gerade los ist. Wenn wieder irgendwelche Flugzettel ausgeteilt werden, dann hält sie die in die Kamera. So haben wir durch Social Media in Räumen, wo klassische Medien nicht mehr reinkommen oder Erzählungen in eine bestimmte Richtung gehen, die Möglichkeit, eine andere Perspektive angeboten zu bekommen.
Das ist die große Chance von Social Media, dass es sehr niederschwellig geworden ist, seine eigene Geschichte, neben den anderen, die dort zu finden sind, zu erzählen.

Fabian Reicher
Für die autoritäre Wende, die die ganze Welt überzieht, nirgendwo so sichtbar wie in den USA mit dem Aufstieg von Donald Trump und seinen Tech Bros, hat Social Media eine große Rolle gespielt. Sind Geschichten wie die, die Esim gerade erzählt hat, wichtig, um uns allen Mut zu machen? Wir sehen, wie Donald Trump agiert, wie er ein Gesetz nach dem anderen erlässt, um damit tatsächlich eine faschistische Agenda durchzusetzen. Wir erinnern uns an die Einwanderungsbehörde ICE, die er losgeschickt hat, vor allem in Los Angeles, um Menschen komplett willkürlich aufzugreifen. Dagegen gibt es mittlerweile extrem viel Widerstand. Und der spielt sich auch auf Social Media ab. Auf TikTok sehen wir Videos, aktuell von Zeit im Bild aufgegriffen, wo man sieht, wie Menschen dem ICE Zugriff entkommen. Wir sehen, wie Leute jenen Hotels, die ICE Beamte beherbergen, schlechte Google Bewertungen geben, wie sie über Social Media kommunizieren, wo Zugriffe stattfinden. Social Media ist immer auch ein Ort, wo Widerstand sich formieren kann. Wir hatten das schon 2016, als die Kids bei Trump Wahlkampfveranstaltungen online die ganzen Tickets gebucht haben, dann nicht hingegangen sind und Trump vor leeren Seelen auftrat. Es ist ganz, ganz wichtig, das auch zu sehen. Diese Geschichten machen uns allen Mut, und das brauchen wir auch, um dann real zu handeln.

Edith Meinhart
Ihr glaubt im Prinzip an das Gute im Menschen und daran, dass Geschichten von einer Welt, wo man aufeinander schaut, wo Menschen nicht zurückgelassen werden, wo man solidarisch ist, viel mehr bewegen und faszinieren Geschichten von einer verächtlichen, kriegerischen, Gewalt verherrlichenden Sphäre. Aber werden diese guten Geschichten denn erzählt?

Eșim Karakuyu
Ich glaube schon, dass sie erzählt werden und immer erzählt worden sind, angefangen vom Lagerfeuer, wo die Menschen sich Geschichten erzählt haben, um unterschiedliche Blickwinkel auf die Welt und Erfahrungen zu teilen, auch mit den Jüngeren. Wie Fabian es immer so schön beschreibt: Die Menschheit lebt davon, miteinander zu kommunizieren, Unterschiedlichkeiten auszuhalten und den gemeinsamen Nenner im Blick zu behalten. Unser Buch ist davon geprägt, dass es diese Räume braucht. Social Media ist einer dieser Räume, wo wir aufeinander zugehen, miteinander sprechen, unsere Geschichten erzählen und solidarisch sein können. Statt in diese Vereinzelung hineinzugehen, können wir schauen: Wo gibt es Synergien, wo können wir uns gegenseitig unterstützen, wo können Veränderungen im realen Leben stattfinden?

Edith Meinhart
Denkt ihr, es gibt eine Sehnsucht nach diesen Geschichten?

Fabian Reicher
Ich bin mir ganz sicher. Wir haben die letzten Jahre sehr viel Polarisierung erlebt. Damit wird Geschäft und Politik gemacht. In Wirklichkeit haben die Menschen eine tiefe Sehnsucht danach, aufeinander zuzugehen. Deshalb sind auch diverse Social Media Formate, die auch wir zum Teil umgesetzt haben, wie Cop und Che, wo es um Ahmad und Uwe geht, die aus unterschiedlichen Welten kommen, aber ein gemeinsames Ziel haben, nämlich ein friedliches Wien für alle, und auf diesem Weg ihre Unterschiede ein bisschen zur Seite stellen und das Gemeinsame über das Trennende stellen. Diese Geschichten werden und wurden immer erzählt, aber viel zu wenig auf Social Media, was eben auch daran liegt, dass progressive Akteure eine natürliche Skepsis gegenüber Social Media haben, verständliche und nachvollziehbare Kritik üben, aber ob es uns gefällt oder nicht, Social Media ist da, es wird nicht mehr weggehen. Es ist die größte Bühne der Welt.
Und selbst wenn die Geschichten dort erzählt werden, werden sie oft nicht nach den Spielregeln erzählt. Darum geht es uns auch im Buch. Wir wollen darüber reden, wie Social Media funktioniert. Wenn wir die Spielregeln beherrschen, können wir sie nutzen, um unsere eigenen Geschichten zu erzählen.

Edith Meinhart
Das heißt, Menschen, die gute Geschichten auf Lager haben, erfahren in eurem Buch auch, wie sie auf Social Media Resonanz finden.

Eșim Karakuyu
Auf jeden Fall. Im ersten Teil geben wir theoretischen Input, im zweiten Teil dann eine Anleitung, was man beachten muss, wie man auf Social Media loslegen kann, um seine eigenen Held:innengeschichten zu erzählen.

Edith Meinhart
Eșim, Fabian, herzlichen Dank für das Gespräch.

Liebe Hörerinnen und Hörer, danke fürs Zuhören. Ich freue mich, wenn Sie das nächste Mal wieder dabei sind.
Das war die heutige Ausgabe der Dunkelkammer. Wenn ihr dieses Projekt mit einem Abo oder einer Spende unterstützt wollt, die Links dazu gibt es auf Hinweise und Feedback bitte an redaktionie@dunkelkammer at.

Episode Notes
Eşim Karakuyu, Christopher Glanzl, Fabian Reicher: Die alternative Held:innenreise, Digital Storytelling von Unten, 20.00 €, 302 Seiten, ISBN: 978399136-096-4, erschienen: Oktober 2025

Autor:in:

Edith Meinhart

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